Dramatische Momente im Sport:Wenn die Welt aufhört, sich zu drehen

Deutschland - Spanien

In der Kritik: Dennis Schröder, 22, polarisierte bei der EM mit mancher Spielweise und mancher Äußerung.

(Foto: Rainer Jensen/dpa)

Fällt der Ball rein oder nicht? Das deutsche Aus bei der Basketball-EM ist pure Dramatik - ein Moment, der erklärt, weshalb die Welt des Sports trotz Doping, Korruption und Betrug nicht in Schutt und Asche liegt.

Kommentar von Ralf Wiegand

Albertville 1992, olympisches Eishockeyturnier, Viertelfinale. 16 Jahre ist es her, dass ein deutsches Team eine Medaille gewonnen hat, seine einzige. Bis heute muss man nur "Innsbruck" sagen unter Eishockey-Freunden, und jeder weiß Bescheid. Jetzt hat die deutsche Auswahl Kanada einen großartigen Kampf geliefert, die Verlängerung erreicht, das Penaltyschießen, fünf Schützen pro Team - auch danach steht es unentschieden. Nun zählt es Mann gegen Mann, wenn einer trifft und der andere nicht, ist das Spiel vorbei. Penalty-schießen und Sudden death, das ist der kumulierte Wahnsinn. Eric Lindros trifft für Kanada, 3:2. Peter Draisaitl läuft an.

Was dann passiert, ist Geschichte, man kann die Szene auf Youtube finden, ein bisschen verwaschen sind die Bilder, aber was soll's. Das Drama lässt sich spüren. Draisaitl läuft auf Sean Burke zu, versucht, dem kanadischen Torwart den Puck durch die Beine zu schieben. Burke bringt seine Gräten noch gerade so zusammen, aber die Scheibe, 7,62 Zentimeter Durchmesser, 2,54 Zentimeter hoch, taucht hinter ihm wieder auf, kullert auf der Kante Richtung Tor. Sie müsste nach hinten umfallen, dann stünde es 3:3. Sie kippt nach vorne, bleibt auf der Torlinie liegen, rührt sich nicht mehr, ein totes Stück vulkanisiertes Gummi, ermordet von einer Laune der Sportgeschichte.

Für einen magischen Moment dreht sich die Welt nicht weiter

Es sind solche Szenen, die erklären, warum die Welt des Sports noch immer nicht in Schutt und Asche liegt. Doping, Korruption, Wettbetrug, grenzenloser Kapitalismus, Menschenhandel - all das müsste genug Kraft haben, das Interesse am Sport im aufgeklärten Teil der Gesellschaft auszulöschen. Aber dann kommen diese Momente maximaler Zuspitzung, grenzenloser Überhöhung, in denen alles egal ist. Egal, was Dennis Schröder in seinem restlichen Leben in der NBA verdienen wird und mit seinen gerade mal 21 Jahren schon verdient hat: Hilft ja alles nix, wenn dreikommasieben Sekunden vor Schluss im entscheidenden Spiel gegen Spanien, drei Punkte Rückstand, der Schiedsrichter drei Finger hebt. Für drei Freiwürfe. Der erste - drin. Der zweite - drin. Der dritte: ein magischer Moment.

Sekunden wie diese bei der Basketball-EM bewahren den Sport vor dem Untergang, weil sie für einen Wimpernschlag die Illusion schaffen, die Welt würde aufhören, sich zu drehen. Eindrucksvoller als der Lärm der Massen ist es, wenn die Masse schweigt, weil jeder einzelne ahnt, gerade Zeuge bei etwas völlig Unbedeutendem, aber doch wahnsinnig Wichtigem zu sein. Da wird dann plötzlich die Fechterin Shin a Lam zum Weltstar für einen Abend, weil die Bilder von der weinenden Koreanerin in einer abgedunkelten Sporthalle, auf der Planche kauernd, live übertragen werden. Ein Sitzstreik war es, aus Protest gegen die Gemeinheit des letzten Augenblicks. Olympische Spiele 2012 in London, Halbfinale im Degenfechten gegen Britta Heidemann. Drei Treffer setzte die Deutsche in der letzten Sekunde des Gefechts, die zur Ewigkeit wurde. Über den letzten, den siegbringenden, beriet die Jury 25 μMinuten lang. Noch in der Zeit? Schon außerhalb?

Welch größere Unterhaltung kann es geben, als ein Ereignis, das vermag, die Gesetze der Zeit außer Kraft zu setzen.

Das Publikum kann solche Magie nicht erwarten, es kann nur hoffen, sie nicht zu verpassen. Sie kommt aus dem Nichts. Wie 1999 im Finale der Champions League, ein Spiel, das die Bayern gegen Manchester schon 1:0 gewonnen glaubten, weil doch längst die Nachspielzeit lief. Und dann? Teddy Sheringham, Ole Solskjaer, Schlusspfiff. 1:2. 23 Jahre hatten die Bayern auf den Gewinn eines Landesmeister-Titels gewartet. 23 Jahre gearbeitet. Alles weg im letzten Moment.

Verdammt. Verdammt spannend.

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