BVB:Mittelerde wird zugemacht

BVB: Die größte Stehplatztribüne der Welt, Herz und Imageträger des BVB. Diesen Samstag bleibt die mythische "Süd" erstmals bei einem Spiel leer.

Die größte Stehplatztribüne der Welt, Herz und Imageträger des BVB. Diesen Samstag bleibt die mythische "Süd" erstmals bei einem Spiel leer.

(Foto: imago)

Die leere Südtribüne ist für den BVB Fanal und Chance zugleich: Bisher herrscht dort eine Minderheit, aber jetzt schwindet die Macht der Ultras.

Von Freddie Röckenhaus

Für die, die mit der Dortmunder Südtribüne einen ziemlich großen Teil ihres Lebens verbringen, ist sie mehr als ein treppenförmiges Bauwerk aus Beton, von dem aus man gemeinsam eine Fußballmannschaft anfeuert und eine auspfeift. Die Südtribüne ist für fast alle, die einmal dort waren, ein mystischer Ort. Ein Ort irgendwo zwischen Tolkiens Mittelerde und Abenteuerspielplatz, kein wirklich realer Ort also, aber bevölkert von lauter seltsamen Grüppchen und Stämmen und Einzelgängern, die, ja: auf ihr leben.

Es gibt Einpeitscher, Kapos, es werden Lieder über Leuchttürme gesungen und darüber, dass man mit den Schwarzgelben um die Welt geht. Es gibt ein paar Dutzend Schläger, und es gibt Leute, die Drachenreiter sein wollen. Stellt sich die Frage: Kann eine Männergruppe, die sich "Kontrollausschuss" nennt, so einen Ort "sperren", so wie es an diesem Wochenende passiert, wenn die Borussia gegen den VfL Wolfsburg spielt?

Fanbeauftragte stellen eine Radikalisierung fest, und auch der Drogenkonsum steigt

Ja, das kann der DFB-Kontrollausschuss. Zumal, wenn die Leitung von Borussia Dortmund der Meinung ist, dass es in diesem Fall nun mal sein muss - um nicht noch größeren Schaden anzurichten. Es gibt Strafen, die man akzeptiert, weil man gegen die Dynamik der Meinungs-Wucht sowieso nicht ankommt. Ein Spiel lang wird die Südtribüne nun leer sein.

Zur Erinnerung: Bestraft wird, dass vor zwei Wochen ein paar hundert der 25 000 Südtribünen-Bewohner sehr viele Plakate und Bannern gemalt hatten: alle möglichen, zum Teil ziemlich menschenverachtenden Schmähungen des Gegners RB Leipzig; die verrohte Sprache las sich so wie die Beleidigungen, die sich viele Menschen inzwischen im Internet jeden Tag an den Kopf werfen. Die ganze Südtribüne ein einziger Shitstorm.

Was man an diesem Samstag in Kauf nimmt: dass als Kollateralschaden 24 000 fußballverrückte junge Leute ausgesperrt werden, ohne dass sie an der Aktion beteiligt waren. Die Sichtung der hochauflösenden Videobilder der Südtribüne beim Spiel gegen RB hat längst erwiesen, dass es nur ein paar hundert Ultras-Fans waren, die sich mit ihren Plakaten über die ganze Tribüne verteilt hatten. So konnten sie den Eindruck erwecken, die ganze Südtribüne nehme an dem schauerlich missratenen Protest gegen den Leipziger Retortenklub teil.

Rechtfertigt das eine solche Strafmaßnahme? Die berühmteste Tribüne der Welt zu entvölkern, auf Fernsehbildern, die um die Welt gehen werden?

Gut, ein Fußballspiel mal nicht im Stadion zu erleben, sondern vor Bildschirmen, ist nicht das Ende der Welt. Auch nicht das Ende von Mittelerde. Dass für die Beleidigungs-Kultur im Internet in der Regel keiner zur Rechenschaft gezogen wird, oder dass zum Beispiel AfD-Leute wegen ihrer Parolen bei Pegida-Demos nicht zu einem Monat Parlaments-Ausschluss verurteilt werden - steht auf einem anderen Blatt.

Schmerzhafter Image-Verlust für den BVB

Der Haken ist nur: Offiziell sanktioniert die Sperrung der Südtribüne nur die vielen geschmacklosen Plakate. Aber natürlich ist die DFB-Strafe in Wahrheit nur im Zusammenhang mit dem Mob von BVB-Fans zu verstehen, die vor dem Stadion zur gleichen Zeit Polizisten und die harmlosen Leipzig-Anhänger, darunter auch Kinder, mit Flaschen, Dosen und allen möglichen anderen Wurfgeschossen traktierten. Ohne Rücksicht auf Verluste. Dafür ist der Kontrollausschuss nicht zuständig gewesen. Aber auf dem Denkzettel, den der DFB ausstellen wollte, stand in unsichtbarer Tinte auch die Gewalt vor dem Stadion. Auch dort nutzte eine kleine Gruppe die Menge als Schutz. Auch dort wurden viele Ultras als Täter inzwischen angezeigt.

Als am Mittwoch darauf Marcel Schmelzer vor dem Pokalspiel gegen Hertha BSC per Video die BVB-Fans aufforderte, solche Dinge nie mehr zu machen, jaulte allein der Ultras-Block gegen die guten Worte des eigenen Mannschaftskapitäns an. Einsicht hätte anders geklungen.

Das Problem der Südtribünen-Stämme ist spätestens bei Schmelzers Rede klar geworden. Die Ultras, die sich selbst als Elite der Fußball-Fans verklären, ein paar von ihnen durchaus auch zu den Herrenmenschen der Stehränge, machen auf der Südtribüne nach Erkenntnissen von Borussia Dortmund etwa zwei bis drei Prozent der Besucher aus. Es sind also vielleicht 500, von denen inzwischen an die 200 als "gewaltbereit" eingestuft werden. Diese zahlenmäßig verschwindende Minderheit hat es seit Jahren verstanden, sich als legitime Sprecher der Mehrheit darzustellen. Das fällt leicht, denn der übergroße Teil der Südtribünen-Fans sucht das Erlebnis, das Gruppengefühl, die gemeinsame Begeisterung und Trauer. Da überschneiden sich die Motive. Die aufgesetzte Ideologie der Ultras, die in Kurzfassung der Ansicht sind, dass im Fußball früher alles besser, weil weniger kommerziell war, ist den meisten "Normalo"-Fans zu viel.

Vielen unter den 95 Prozent Nicht- Ultras, die auf der Südtribüne stehen, gehen die "Wichtigtuer" zwar auf die Nerven. Aber eine Distanzierung ist kaum möglich. Wie sollte sie aussehen? Erwarten wir eine Denunziantenkultur? Borussia Dortmunds fünf hauptamtliche Fanbetreuer, die alle selbst aus der Ultras-Bewegung stammen, berichten außerdem schon länger, wie sich vor allem junge Ultras radikalisieren und allmählich ein System der Gewalt auch gegen andere BVB-Fans aufbauen. Kampfsportgestählte Typen kokettieren ganz offen damit, die Macht im Block zu beanspruchen. Der Konsum von Aufputschdrogen nimmt nach jüngsten Polizei-Erkenntnissen zu. Wer legt sich mit solchen Leuten an? Wegen ein paar Plakaten gegen RB Leipzig, das als Marketing-Konstrukt ja tatsächlich polarisiert?

Bei Borussia Dortmund selbst haben sie den kleinen, lautstarken Ultras-Grüppchen seit Jahren vergleichsweise ausführlich zugehört und sich um "Einvernehmen" bemüht. Die Emotionen der "Gelben Wand", der größten Stehplatz-Tribüne der Welt, sind eine der wichtigsten Image-Komponenten des BVB-Marketings. Und die Ultras verstehen es seit Jahren, so zu tun, als würden Stimmung und Emotionen auf der Süd nur von ihnen entfacht. Dass Dortmunds Südtribüne schon 1989 ganz ähnlich war, zehn Jahre vor der Gründung der ersten Ultras-Gruppen, ist inzwischen fast vergessen.

Hetzen gegen die "DFB-Mafia"

Als im vergangenen Sommer Mario Götze zu seinem Heimatverein Dortmund zurückgeholt werden sollte, hat BVB-Boss Hans- Joachim Watzke die Ultras konsultiert. Die hatten vorher, in bekannter Shitstorm-Manier, den zum FC Bayern abgewanderten Götze als "Judas" und "Verräter" diffamiert. Dieser letzte Ritterschlag, über den wichtigsten BVB-Transfer des Sommers scheinbar mitentscheiden zu dürfen, scheint manchen Anführern oder "Kapos" der Ultras zu Kopf gestiegen zu sein. Eine Handvoll Ultras-Führer durfte sich auf dem Gipfel der Macht fühlen: 150 000 Vereinsmitglieder, 25 000 Südtribünen-Fans, 80 000 im Stadion - aber eine kleine, in sich zersplitterte Gruppe von 500 wird gefragt, ob sie im Zweifel eine Rückholaktion Götzes gutheißen würde.

Vielleicht bewirkt die Sperre das Gegenteil dessen, was sie bewirken soll. Viele Fans lassen sich von den Ultras in den letzten Tagen - wie üblich - schon wieder gegen die angebliche "DFB-Mafia" aufwiegeln, gegen den "modernen Fußball", gegen die Klubführung. Aber es deutet manches darauf hin, dass die großen Zeiten der Ultras als Mehrheits-Darsteller gerade zu Ende gehen. Vielleicht hilft das Fanal "Leere Südtribüne" deshalb auch. Manche Einpeitscher der Ultras sind bei Borussia Dortmund offenbar auch deshalb so einflussreich, weil sie sich als Drachenreiter verkaufen, die Watzke und anderen suggerieren, sie seien Garanten einer gewissen Verlässlichkeit, sie könnten die Meute zähmen. Nun hat man deutlich gesehen, dass das nicht mehr stimmt.

Die Sperre der Südtribüne ist der schmerzhafteste Image-Verlust, den Borussia Dortmund seit Jahren erlitten hat. Sie schmeckt aber zugleich nach Neuanfang. Viele Ultras werden im nächsten Sommer, als Folge ihrer Verwicklung in die Ereignisse beim Leipzig-Spiel, wohl keine Eintrittskarten mehr für Mittelerde bekommen. Auch 88 Schläger der Gruppe "0231 Riot" und ihrer rechtsradikalen Verstärkung, die am letzten Samstag mit Drogen und Kampfausrüstung im Gepäck von der Polizei gestoppt wurden, sind zum bundesweiten Stadionverbot ausgeschrieben. Man wird sehen, ob das für ein friedlicheres Zusammenleben auf der sagenhaften Südtribüne nicht doch gut ist.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: