Dortmund:Ein angemessener Moment der Trauer

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Das Schweigen des Publikums als Reaktion auf den Tod eines Besuchers erinnert an die Zeit, in der es in der Bergwerksstadt Unglücke gab - und alle zusammenhielten.

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Reinhard Rauball hat schon manches Spiel erlebt. "Aber was wir hier heute erlebt haben, hat es noch nie gegeben", meinte der Präsident von Borussia Dortmund beeindruckt. "Das Spiel ist in den Hintergrund gerückt", befand auch BVB-Kapitän Marco Reus gleich nach dem Schlusspfiff. Ein paar seiner Mannschaftskameraden kämpften sichtlich mit den Tränen, als sie, Arm in Arm vor der Südtribüne aufgereiht, dem inbrünstigen Gesang der Fans zuhörten, mit jener Hymne, die der BVB-Anhang seit Jahren als inoffizielles Vereinslied adaptiert hat: "You'll Never Walk Alone".

Amateur-Videos dieses besonderen Moments des Mitgefühls, der Trauer, der Solidarität und des Respekts verbreiteten noch in der Nacht die anrührende Szene in die ganze Welt. Die Anerkennung für die beiden Fanlager von Dortmund und Mainz schlägt hohe Wellen bis Australien und Südafrika. Während der ersten Halbzeit hatten zwei BVB-Anhänger im Stadion Herzinfarkte erlitten. Für einen 80-Jährigen kam jede Hilfe zu spät, der andere Zuschauer, ein 55-Jähriger, konnte in einer dramatischen Reanimation gerettet werden. Sein Zustand soll sich im Krankenhaus stabilisiert haben.

You'll never walk alone: Die Südtribüne trauert singend um den verstorbenen Dortmunder Fan. (Foto: Eibner/imago)

Die Nachricht, dass zwei Fans im Stadion mit dem Tode rangen, verbreitete sich offenbar rasend schnell zu Beginn der zweiten Hälfte, vor allem unter den Zuschauern der Südtribüne mit ihren 25 000 Stehplätzen. Dass die Fans dann allerdings zu einer so geschlossenen, spontanen und angemessenen Reaktion im Stande waren, nicht nur die Dortmunder, sondern auch die 120 Meter entfernt stehenden Mainzer Anhänger, war überraschend. Die Reaktion war zunächst so verblüffend, dass sie auf dem Spielfeld bei den eigentlichen Akteuren des Bundesligaspiels Dortmund gegen Mainz 05 zunächst eher für Irritation sorgte. Das irrwitzige Tempo, in dem sich über soziale Medien und mobiles Internet Nachrichten verbreiten, ist verwirrend. Noch mehr aber, dass selbst riesige Menschenmengen daraus dann binnen Minuten zu gemeinsamem Handeln finden - wie diesem Schweigen von Dortmund.

Mats Hummels muss bei der Atmosphäre auch an den Abend der Anschläge von Paris denken

BVB-Kapitän Mats Hummels beschrieb die Situation in der zweiten Halbzeit so: "Wir auf dem Spielfeld wussten nicht, was passiert war. Plötzlich hörten die Anfeuerungsrufe auf, es wurde ganz still im Stadion. Es war gar nicht so leicht, die Konzentration immer aufrecht zu erhalten, wenn die Kulisse auf einmal so ist wie bei einem Trainingsspiel, mit vielleicht 30 oder 40 Zuschauern." Auch Reus beschrieb eindrücklich, wie gespenstisch die Atmosphäre plötzlich wirkte: "Der Schiedsrichter hat mich mehrmals gefragt, was denn eigentlich los ist, ich habe den Schiedsrichter zurück gefragt: Haben wir irgendwas verbrochen?" Es sei ein wenig eine Atmosphäre wie an jenem tragischen Abend der Anschläge im November von Paris gewesen, erinnerte sich Nationalspieler Hummels, der im Stade de France dabei war: "Man hat gespürt, dass etwas Schlimmes passiert ist, das war sehr ähnlich."

Während die Dortmunder Großchance auf Großchance herausspielten und am Ende hochüberlegen durch Tore von Reus und Kagawa 2:0 gewannen, blieb das Publikum stumm. "Es nötigt mir einen unglaublichen Respekt ab, wie die Fans heute reagiert haben", bekräftigte BVB-Chef Rauball, "man hat gesehen, wie tief verwurzelt solche Begriffe wie Ehre und Respekt sind. Eine einfach tolle Reaktion, auch der Mainzer Fans, die ja ebenfalls ihre Anfeuerungsrufe eingestellt haben." Er habe sich schon häufiger kritisch über Fans äußern müssen, dieser Abend aber relativiere alles.

Dortmunds besondere Nähe zwischen den Anhängern, der Mannschaft, der ganzen Stadt ist zwar bekannt in der Fußball-Welt. Sie wird aber von Kritikern mehr und mehr auch als Medien- und Marketing-Übertreibung missverstanden. An diesem Abend haben die BVB-Fans dann unter Beweis gestellt, dass der Fußball in Dortmund einen Zusammenhalt stiftet, dass mehr dahinter steckt als ein käuflich erwerbbares Stadionerlebnis. Die spontane Trauerfeier, mit dem einst vom FC Liverpool übernommenen Song "You'll Never Walk Alone", die schwarz-gelben Schals von offenbar wirklich jedem Fan in den Himmel gereckt, das alles erinnerte an die fernen Tage, in denen es in der alten Bergwerks- und Stahl-Stadt noch Grubenunglücke und andere Unfälle gab. Die Söhne und Töchter der Stahlarbeiter und Kumpels haben längst nicht mehr mit den Gefahren der Schwerindustrie zu tun, aber ein wenig von dem besonderen Zusammenhalt in den Ruhrpott-Städten hält sich hartnäckig im Dortmunder Stadion. Dieses Fluidum hat sich an diesem Abend verbreitet.

Spontane Trauerfeier im Kollektiv: Die Dortmunder Mannschaft versammelt sich vor ihrer Kurve. (Foto: Bernd Thissen/dpa)

Dortmunds armenischer Nationalspieler Henrikh Mkhitaryan, auf dem Spielfeld überragender Dortmunder, twitterte noch am Abend, im Original auf Englisch: "Gebete und Gedanken für den Fan, den wir heute im Stadion auf traurige Weise verloren haben, und auch mit dem zweiten Fan, der nun im Krankenhaus liegt." Vorher hatten Spieler wie Bürki, Ginter, Castro oder Sahin vor der singenden Südtribüne mit Mühe ihre Tränen unterdrückt. Der Fußball und seine Erz-Fans haben aus der gemeinsamen Trauer einen angemessenen Moment geschaffen. Seit Sonntag dürfte die Südtribüne in Dortmund nicht mehr nur für Entertainment und Abenteuer stehen, sondern für Respekt, Haltung, Gemeinschaft. Was für ein Sieg.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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