Dopingfall Pechstein:Mehr Athleten mit auffälligen Werten

Nach SZ-Informationen haben Doping-Jäger weitere auffällige Blutprofile vorliegen. Darunter bei zwei Eisschnellläuferinnen. Haben sie alle eine seltene Blutanomalie?

Thomas Kistner

Ende September verwarf das Schweizer Bundesgericht Claudia Pechsteins Revisionsbegehr: Die vom Weltsportgerichtshof Cas verfügte Zwei-Jahres-Sperre gegen die von rasanten Blutwert-Schwankungen geplagte Eisschnellläuferin bleibt bestehen. Pechstein verkündigte daraufhin, sie werde in Kürze weitere Materialien liefern, "die den Beleg für die bei mir vorliegende Anomalie noch präziser liefern können".

CAS: Urteil im Pechstein-Fall erst im Herbst

Blutanomalie? Oder doch Doping? Claudia Pechstein beteuert weiterhin, nie verbotene Mittel genommen zu haben.

(Foto: dpa)

Die fünfmalige Olympiasiegerin aus Berlin bestreitet Doping. Sie wird dabei von renommierten Hämatologen unterstützt, die bei ihr eine seltene Blutanomalie diagnostiziert haben wollen: einen Membraneffekt der Blutzellen, der das bisweilen gehäufte Auftreten ganz junger roter Blutkörperchen - Retikulozyten - angeblich erklärt. Wegen zu vieler Retikulozyten wurde Pechstein gesperrt. Doch während Mediziner seit Monaten einen Athletenkörper sondieren, der über eine rätselhafte Rarität zu verfügen scheint, wirft die Staatsanwaltschaft München jetzt ein neues Licht auf den Fall. "In dem Ermittlungskomplex zum Thema Eisschnelllauf", teilt die Behördensprecherin mit, "gibt es nicht nur Frau Pechstein, die auffällige Retikulozyten-Werte hat."

Die Tatsache, dass sich rätselhafte Blutbilder offenbar häufen, sorgt hinter den Kulissen für Aktivität. Nicht nur bei Pechstein, auch bei anderen Athleten gibt es demnach mysteriöse Blutphänomene, darunter bei mindestens zwei weiteren deutschen Eisläuferinnen, wie die SZ erfuhr. Das ist eine alarmierende Entwicklung, die nicht in die bisherige Einzelfallstudie zu passen scheint.

Nada informierte die Behörden

In der Begründung zum Pechstein-Urteil des Eislauf-Weltverbands ISU vom Juli 2009 steht, es seien in rund 10000 Sportler-Blutprofilen - erhoben über Jahrzehnte - "nur acht Personen mit einer Blutkrankheit" gefunden worden, darunter "nur ein Blutprofil, das dem der Beschuldigten ähnelte". Das Urteil betont also die extreme Seltenheit solcher Wertschwankungen im Spitzensport.

Bis heute ist es Pechstein nicht gelungen, zur Überzeugung der Gerichte darzulegen, welches Körperphänomen ihre Werte ausgelöst haben soll. Eingeweihte Hämatologen wie Professor Arnold Ganser aus Hannover sagen: "Nachgewiesene oder vermutete Membrandefekte können prinzipiell nie den Beweis liefern, dass kein Doping stattgefunden haben kann." Sie könnten aber eine "hinreichende Erklärung für die beobachteten Laborbefunde" liefern.

Doch im neuen Lichte stellt sich der Fall wie folgt dar: Während eine Gutachterschar um Pechstein geräuschvoll ihre Ursachenforschung im Blut betreibt, ermitteln in aller Stille Staatsanwälte und die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada). Die Nada hatte nach dem Cas-Urteil 2009 Anzeige gegen Unbekannt erstattet, denn im Urteil war auf mutmaßliche Hinterleute verwiesen worden, die beim angenommenen Dopingvergehen assistiert haben könnten.

Ihrer Anzeige legte die Nada brisantes Material bei: Befunde mit erhöhten Retikulozytenwerten bei zwei wenig prominenten Eisläuferinnen, ermittelt bei Trainingstests im Frühjahr und Herbst 2009. Beide Kaderathletinnen waren dann auch Ziel von Razzien, die im Februar 2010 an 21 Plätzen bundesweit stattfanden. Die auffälligen Werte werden zurzeit nicht als Dopingbefunde behandelt, sondern als Ermittlungsansatz. Dabei stellt sich die Frage: Ist plötzlich eine Welle von Blutanomalien ausgebrochen, besonders im Eisschnelllauf?

"Für mich nicht denkbar"

Noch spannender macht die Sache, dass der Nada auffällig schwankende Blutwerte auch außerhalb des Eisschnelllaufs vorliegen - "nicht nur bei deutschen Athleten", bestätigt die kommissarische Nada-Chefin Anja Berninger. Fahnder und Sportermittler wollen den gehäuften Vorfällen jetzt in einer "komplexen Untersuchung der Nada-Experten im Austausch mit Laboren, Medizinern und Staatsanwaltschaft" auf den Grund gehen. Jeder Einzelfall werde geprüft, die Werte in Profilen gesammelt. Anhand der Informationen will Berninger rasch Richtlinien für justiziable indirekte Nachweise formulieren, diese könnten dann "auch zu Hinweisen an die Staatsanwaltschaft führen".

Denn die Fahnder beleuchten nicht nur den kleinen Teil, der die bisherige Debatte bestimmte: seltene Blutanomalien. Sie gehen auch der Frage nach, welche anderen Einflüsse solche Werteschwankungen bewirken können: etwa die unter Dopern sehr beliebten Wachstumsfaktoren. Der Zellbiologe Werner Franke weist seit langem darauf hin, dass "als Folge von Steroid-Einsätzen kurzzeitig eine erhöhte Bildung von roten Blutkörperchen bekannt" sei.

Die Nada testet fleißig und vervollständigt ihre Blut- und Steroidprofile. Seit 2008 hat sie 3300 Proben gesammelt, verteilt auf rund 750 Athleten aus den höchsten Risikogruppen des Sports: Leichtathletik, Ski, Triathlon, Rad, Schwimmen, Gewichtheben, Kanu, Rudern. "Solche Schwankungsverläufe müssen geklärt werden, gerade, wenn sie bei mehreren Athleten auftreten - ob zum Beispiel eine Erbkrankheit vorliegt, oder etwas anderes", sagt Berninger. Etwas anderes könnte auch bedeuten: Doping.

Diese Klärung steht aus, doch naturgemäß fehlt den Fahndern die Naivität des Publikums. Zellexperte Werner Franke sagt: "Dass sich sehr seltene Anomalien jetzt ausgerechnet im Eisschnelllauf der Frauen so häufen, ist für mich nicht denkbar."

Gegendarstellung

Auf den Internetseiten www.sueddeutsche.de schreiben Sie unter der Überschrift "Mehr Athleten mit auffälligen Werten" in Bezug auf mich: "Die Nada hatte nach dem CAS-Urteil 2009 Anzeige gegen Unbekannt erstattet, denn im Urteil war auf mutmaßliche Hinterleute verwiesen worden, die beim angenommenen Dopingvergehen assistiert haben könnten."

Hierzu stelle ich fest: In dem angesprochenen CAS-Urteil findet sich kein Verweis auf mutmaßliche Hinterleute, die beim angenommenen Dopingverfahren assistiert haben könnten.

Berlin, 15.10.2010

Claudia Pechstein

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: