McLaren-Report:Dopingbericht: um Mitternacht hinter dem Mauseloch

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Grundriss des Anti-Doping-Labors in Sotschi (Quelle: McLaren-Report; Bearbeitung: SZ) (Foto: Quelle: McLaren-Report; Bearbeitung: SZ)

Wie die Russen vor den Olympischen Spielen in Sotschi gedopt haben sollen: Der Report des kanadischen Juristen Richard McLaren liest sich wie ein Krimi.

Von René Hofmann

"Die Anschuldigungen gegen russische Athleten basieren auf den Aussagen einer Person. Einer Person mit einer skandalösen Reputation": So sieht Russlands Präsident Wladimir Putin den am Montag veröffentlichten Bericht, den der kanadische Jurist Richard McLaren nach den Aussagen des in die USA geflüchteten Russen Grigori Rodschenkow in 57 Tagen für die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada erstellte. In diesem wird Russland Staatsdoping vorgeworfen.

Putin weist diese Darstellung zurück. Seine Sicht der Dinge: "Wir sehen eine gefährliche Wiederholung von politischer Einmischung in den Sport. Ja, die Form der Einmischung hat sich geändert, aber das Ziel ist das gleiche: Sport zum Instrument für geopolitischen Druck zu machen, ein negatives Bild von Ländern und Völkern bilden." Der McLaren-Report füllt 97 Seiten. Hier die zentralen Punkte, die Russland in ihm vorgeworfen werden.

Der Ausgangspunkt

Am 4. Juli 2007 vergab das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Winterspiele des Jahres 2014 nach Sotschi in Russland. Die Bedeutung der Veranstaltung für das Gastgeberland war enorm. Als die russischen Athleten bei den Winterspielen 2010 in Vancouver nur 15 Medaillen gewannen und in der Länderwertung auf den elften Platz abrutschten, schrillten offenbar die Alarmglocken. Bei den Heimspielen, so der McLaren-Bericht, sollte sich eine derartige Blamage auf keinen Fall wiederholen.

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Die handelnden Personen

Russischer Sportminister ist seit der Ernennung durch den damaligen Präsident Dmitrij Medwedjew im Mai 2008 Witali Mutko. Der 57-Jährige ist eine im Weltsport gut vernetzte Figur: Er gehört dem Exekutivkomitee des Fußball-Weltverbandes Fifa an und steht dem Organisationskomitee der Fußball-WM vor, die 2018 in Russland ausgetragen werden woll. Zum stellvertretenden Sportminister wurde im Jahr 2010 auf Weisung des damaligen Premierministers Wladimir Putin Juri Nagornich ernannt.

Er berichtet an Mutko und ist auch Mitglied des Nationalen Olympischen Komitees für Russland, des ROC. Eine Schlüsselrolle im russischen Sport spielt das ZSP, die zentrale Anlaufstelle für alle Profi-Sportler. Das ZSP ist eine Unterabteilung des Sportministeriums. Als seine stellvertretende Direktorin fungiert Irina Rodionowa. In Moskau gibt es ein Anti-Doping-Labor. Dessen Leiter war von 2006 bis 2015 Grigori Rodschenkow. Er ist inzwischen in die USA gezogen und tritt als Kronzeuge auf.

Die Dopingmittel

Bis zum Jahr 2010 erhielten russische Athleten Doping-Anleitungen laut Rodschenkow vor allem von ihren Trainern. Als er zum Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors aufstieg, änderte er das. Die Qualität der verabreichten Mittel erschien ihm fraglich, und die Dosen, in denen sie gegeben wurden, hielt er für uneffektiv. Rodschenkow entwickelte eigene Steroid-Cocktails, auch unter dem Gesichtspunkt, wie diese möglichst schwer nachzuweisen seien. Damit sie schneller ins Blut gingen, wurde der Wirkstoff Oral Turinabol in Kombination mit Alkohol verabreicht - für die Männer gab es Chivas-Whisky, für die Frauen Martini-Wermut.

Rodschenkow entwickelte die Rezeptur, er fertigte die Mixturen aber nicht. Für die Distribution an die Sportverbände war angeblich Irina Rodionowa zuständig. Sie gab den Cocktails den Spitznamen eines in Russland beliebten Drinks: "Duchess". Bei den Sommerspielen 2012 in London gingen die russischen Athleten derart präpariert an den Start.

Der erste Trick, positive Doping-Tests verschwinden zu lassen

Damit gedopte russische Sportler bei Tests im Ausland nicht aufflogen, wurden ihre Körpersäfte vor der Ausreise analysiert, ohne dass dies der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada mitgeteilt wurde. Für offiziell eingesammelte Proben, die im Moskauer Anti-Doping-Labor analysiert wurden, wurde laut Bericht ein Prozedere entwickelt, das ausschloss, dass Dopingfälle aufflogen, wenn das nicht gewollt war. Ergab eine der anonymisierten Proben einen positiven Befund, wurde bei der nationalen Anti-Doping-Agentur für Russland, der Rusada, in Erfahrung gebracht, um welchen Athleten es sich handelte.

Diese Information wurde offenbar an Juri Nagornich weitergegeben. Der stellvertretende Sportminister entschied dann angeblich, was mit dem Ergebnis zu geschehen habe. Von Ende 2011 bis August 2015 listet der Report 643 positive Proben auf, die nicht korrekt gemeldet worden sein sollen und für die falsche Ergebnisse im internationalen Meldesystem Adams eingetragen wurden. Betroffen waren Sportler aus allen 36 Disziplinen, von denen Urinproben angeliefert wurden. Die Sportarten waren aber unterschiedlich repräsentiert:

  • Leichtathletik, 139 vertuschte Fälle
  • Gewichtheben, 117
  • nichtolympischer Sport, 37
  • paralympischer Sport, 35
  • Ringen, 28
  • Kanu, 27
  • Radsport, 26
  • Eisschnelllauf, 24
  • Schwimmen, 18
  • Eishockey, 14
  • Skisport, 13
  • Fußball, Rudern, je 11
  • Biathlon, 10
  • Bob, Judo, Volleyball, je 8
  • Boxen, Handball, je 7
  • Taekwondo, 6
  • Fechten, Triathlon, je 4
  • Moderner Fünfkampf, Schießen, je 3
  • Beachvolleyball, Curling, je 2
  • Basketball, Segeln, Snowboard, Tischtennis und Wasserball, je 1

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Das Problem an dem Trick

Das System, auffällige Ergebnisse verschwinden zu lassen, funktionierte - mit Blick auf die Olympischen Winterspiele und die Paralympischen Spiele 2014 ergab sich aber ein Problem: In Sotschi würde in einem extra Labor unter internationaler Aufsicht getestet werden. Und das IOC behielt sich vor, auch Jahre später noch Nachtests in nichtrussischen Laboren anzustrengen.

Die Lösung für das Problem

Der Inlandsgeheimdienst FSB entwickelte eine Methode, wie die standardisierten Behälter, in denen die A- und die B-Proben gesammelt werden, geöffnet und wiederverschlossen werden können, ohne dass dies mit bloßem Auge erkennbar ist. Im Februar 2013, so der Report, glückte das.

Der Urin-Betrug: die Vorbereitungen

In der Vorbereitung auf die Winterspiele in Sotschi gab es mindestens 37 Athleten, die als Medaillenhoffnungen geführt wurden und deren Formaufbau vom Staat komplett überwacht wurde, so McLaren. Unter anderem erhielten diese Athleten die von Grigori Rodschenkow entwickelten Doping-Cocktails. Damit das bei den Winterspielen und auch bei den Nachtests nicht auffliegen würde, wurde eine Sammlung mit sauberem Urin aufgebaut.

Viele russische Athleten gaben unverdächtige Proben ab. Irina Rodionowa, die stellvertretende Direktorin des ZSP, ließ diese einsammeln und in einem Kühlschrank ihres Sportzentrums lagern. Von dort wurde der saubere Urin vom Geheimdienst FSB nach Sotschi gebracht. Jeder Athlet wurde zudem angewiesen, wie er nach der Abgabe einer Dopingprobe in Sotschi vorgehen sollte: Dann sollte er dem ZSP die Nummer der anonymisierten Probe per Handyfoto oder SMS übermitteln.

Der Urin-Betrug: die Details

Nach der Abgabe einer Dopingprobe teilten die Athleten die Nummer ihrer Teströhrchen Irina Rodionowa mit. Sie leitete diese Informationen an ihren Gewährsmann Grigori Rodschenkow im Anti-Doping-Labor in Sotschi weiter, der den Urin-Betrug nach eigenen Angaben orchestrierte. Eine Schlüsselrolle bei diesem spielte wohl auch Jewgeni Kurdjazew, der Chef der Abteilung für die Proben-Registrierung und -Lagerung. Er fing die Lieferung mit dem Urin russischer Sportler ab, die extra immer erst am Nachmittag einging. Die A-Proben brachte er in den dafür vorgesehenen Raum, die B-Proben aber nicht.

Statt diese ins Langzeitlager zu überstellen, ließ er sie, so McLaren, in seiner Kitteltasche verschwinden. Meist gegen Mitternacht habe dann der Urin-Austausch stattgefunden. Durch eine - "Mauseloch" genannte - Öffnung in der Laborwand schob Kurdjazew die A- und B-Probe, um die es ging, in einen Raum, in dem Grigori Rodschenkow wartete. Dieser reichte die Röhrchen an den FSB-Offizier Jewgeni Blochin weiter, der sich mit einer offiziellen Genehmigung in dem Labor aufhielt: Er war als Kanal-Ingenieur der Firma Bilfinger akkreditiert. Blochin verschwand für ungefähr zwei Stunden mit der B-Probe. Bei seiner Rückkehr war das Gefäß unauffällig geöffnet. Außerdem brachte Blochin aus einer Unterkunft des Geheimdienstes den hinterlegten sauberen Urin des Athleten mit.

Dann machten sich Rodschenkow und sein Team ans Werk. Sie schütteten den kontaminierten Urin weg. Damit der Tausch nicht aufflog, mussten sie aber noch das spezifische Gewicht, das beim Nehmen jeder Dopingprobe vermerkt wird, anpassen: Dies geschah offenbar, indem beim sauberen Urin entsprechende Mengen Tafelsalz oder destilliertes Wasser hinzugefügt wurden. Nach der Manipulation wurden die Proben wieder durchs Mauseloch zurückgereicht und in den vorgesehenen Laborzyklus eingespeist, der die Analyse am nächsten Vormittag vorsah.

Wie es nach Sotschi weiterging

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi endeten am 23. Februar 2014, die Winter-Paralympics am gleichen Ort gingen bis zum 16. März. Für die Zeit danach finden sich keine Belege für Urin-Austausch mehr. Das staatlich gedeckte Dopingsystem, so McLaren, nutzte aber weiter die Möglichkeit, Dopingfälle in den Laboren zu vertuschen. Im Dezember 2014 wurde das System erstmals ernsthaft gestört. Die ARD strahlte eine Dokumentation über das russische Dopingsystem aus. Anschließend informierte Olivier Rabin von der Welt-Anti-Doping-Agentur das Labor in Moskau, dass alle dort gelagerten Dopingproben abgeholt und andernorts erneut überprüft würden. Zu dieser Zeit gab es dort noch etwa 10 000 Proben.

Weil viele Dopingfunde vertuscht worden waren, wusste Labor-Leiter Grigori Rodschenkow, dass er eine Zeitbombe im Lager hatte: viele verräterische B-Proben. 8000 von ihnen konnte er verschwinden lassen, weil die Mindest-Bewahrzeit von 90 Tagen abgelaufen war. Aber damit war er längst nicht alle Sorgen los. Er erstellte eine Liste mit 37 Sportlern, die in der Zeit zwischen dem 10. September und dem 10. Dezember 2014 unsaubere Proben abgegeben hatten.

Ein Treffen mit Juri Nagornich wurde anberaumt, um das Problem zu besprechen. Der stellvertretende Sportminister hatte offenbar eine Lösung: Er soll vorgeschlagen haben, "die Magier" einzubestellen. Noch am gleichen Abend, dem 12. Dezember 2014, verschaffte der FSB-Offizier Blochin laut Report anderen Geheimdienstmitarbeitern Zugang zu dem Labor. Am nächsten Morgen waren die Kappen der verräterischen Dopingröhren geöffnet, so dass der Urin gegen unverdächtigen ausgetauscht werden konnte, der allerdings teils von anderen Sportlern stammte.

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Die Kommandostruktur

Der Profisport ist in Russland unter dem Dach des Sportministeriums organisiert. Das ihm angeschlossene ZSP spielte - so McLaren - eine zentrale Rolle dabei, in Sotschi den Urin zu tauschen und positive Dopingfunde zu vertuschen. Irina Rodionowa, die stellvertretende ZSP-Chefin, kontrollierte das Einsammeln des sauberen Urins vor den Sotschi-Spielen. Bei den Winterspielen in Sotschi war sie für das nationale Olympische Komitee Russlands (ROC) als Chefin der medizinischen Anti-Doping-Abteilung tätig. Bei den Sommerspielen 2012 in London gehörte sie als Chefin der Abteilung für Medizin und Forschung der ROC-Delegation an.

Gab es eine positive A-Probe, wurde der stellvertretende Sportminister Juri Nagornich informiert, so schildert es McLaren. Dies sei über einen Mittelsmann oder eine Mittelsfrau geschehen, die wechselten. Zunächst war es Natalia Schelanowa, eine Mitarbeiterin des Sportministeriums. Sie fungierte als Beraterin des Sportministeriums, an dessen Spitze Witali Mutko steht. Auch Alexej Welikodny füllte die Rolle des Mittelmanns aus; er war zu dieser Zeit Mitarbeiter des ZSP, aber wohl auch mit dem Sportministerium eng verbunden: Er hatte ein Büro, das drei Türen neben dem Nagornichs lag. Die Entscheidung, ob eine positive Probe vertuscht wurde, traf normalerweise der stellvertretende Sportminister.

Mindestens ein Fall aber ist dokumentiert, in dem dies anders war. Die Probe eines ausländischen Fußballers, der in der russischen Liga spielte, wurde auf Geheiß des Sportministers Witali Leontjewitsch Mutko vertuscht. Eine E-Mail, aus der dies hervorgeht, trägt das Kürzel WL - die Initialen Mutkos. Mutko ist auch Präsident des russischen Fußball-Verbandes. Seit 2009 gehört er dem Exekutivkomitee des Fußball-Weltverbandes an. Bei den Sotschi-Spielen saß er im Aufsichtsrat des Organisationskomitees. Schelanowa, Rodionowa, Welikodny und Nagornich sind inzwischen suspendiert.

Das Ausmaß

Sportlernamen nennt der Report nicht. Wessen Urin in Sotschi getauscht wurde, von wem positive A-Proben verschwanden - um diese Fragen zu ergründen, reichte die Zeit nicht, gibt Richard McLaren an. Er empfiehlt der Welt-Anti-Doping-Agentur aber, diesen Fragen nachzugehen. Positive Proben wurden seinen Recherchen nach in der Zeit von Ende 2011 bis August 2015 vertuscht - betroffen war die überwältigende Mehrheit der olympischen Sportarten.

Nach Angaben des Kronzeugen Rodschenkow waren vier russische Goldmedaillengewinner bei den Sotschi-Spielen mit Steroiden gedopt. Dutzende russischer Athleten seien in das über Jahre aufgebaute Programm involviert gewesen, mindestens 15 von ihnen hätten Medaillen gewonnen. Der Plan, die Schmach von Vancouver zu tilgen, ging zunächst auf. Russland gewann in Sotschi 33 Medaillen - mehr als jede andere Nation. Offiziell gab es keine einzige positive Dopingprobe eines russischen Athleten.

Vergleich der beiden letzten Olympischen Winterspiele: Russland steigt von Platz 11 auf Platz 1 (Foto: N/A)
© SZ vom 20.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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