Disqualifikation bei Leichtathletik-EM:Zu früh gefreut

Athletics European Championships 2014

Oben ohne ins Ziel: Mahiedine Mekhissi-Benabbad bei der EM in Zürich

(Foto: Steffen Schmidt/dpa)

Aufreger bei der Leichtathletik-EM: Meter vor dem Ziel zieht Hindernisläufer Mahiedine Mekhissi sein Trikot aus - und wird disqualifiziert. Es ist nicht die erste merkwürdige Aktion des Franzosen, einmal wurde er sogar schon handgreiflich.

Von Johannes Knuth, Zürich

Es ist gar nicht so einfach, sich auf den letzten Metern eines 3000-Meter-Hindernisrennens das Trikot auszuziehen und unfallfrei das Ziel zu erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt verdient der Franzose Mahiedine Mekhissi-Benabbad, 29, aus Reims einen gewissen Respekt für das, was er am Donnerstagabend anstellte am dritten Wettkampftag der Leichtathletik-EM auf der Zielgeraden im Züricher Letzigrund.

Als Mekhissi um die Ecke bog, musste er zunächst einmal die Lage sortieren. Niemand in Sicht, Mekhissi konnte sich ungestört freimachen. Allerdings musste er irgendwie noch dieses blöde, letzte Hindernis überqueren, gleichzeitig das Trikot mit sich führen und dabei seine Arme einsetzen, um bei der Überquerung nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der 29-Jährige meisterte diese logistische Herausforderung innovativ: Er steckte sich sein Trikot in den Mund. Dann stürmte er ausgelassen ins Ziel, oben ohne.

Rund eine Stunde später stand fest, dass das Kampfgericht bedingt beeindruckt war von den Multi-Tasking-Fähigkeiten. Es disqualifizierte Mekhisse, er verlor seinen EM-Titel. Den Protest der Franzosen wiesen die Kampfrichter ab, der Zweitplatzierte Yoann Kowal, ebenfalls Frankreich, erbte die Goldmedaille. Es war schon kurios. Seit drei schleppenden Wettkampftagen vor halbleeren Tribünen und nach diversen Missgeschicken diskutieren sie in Zürich, wie man der Leichtathletik mehr Aufmerksamkeit zuführen könnte. Und nun produzierte dieser Mekhissi den bis dato größten Aufreger, unfreiwillig.

Die Entrüstung war groß, die sich recht über die Leichtathletik-Welt legte, vorzugsweise gefördert durch die sozialen Netzwerke. Mekhisse verbreitete sein Plädoyer in eigener Sache dann auch per Facebook, er schrieb: "Ich wollte einfach nur wie ein Fußballspieler jubeln." Das Verständnis, das ihm sein Publikum entgegenbrachte, war groß: Wenn man ihn bestraft, dann reiche eine Verwarnung aus - aber ein Platzverweis, weil jemand sein Trikot auszieht? So verlief eine populäre Argumentationslinie. Andere legten Mekhisse den verfrühten Jubel als Arroganz aus. Der Angeklagte beteuerte: "Ich habe zu viel Respekt für meine Gegner und zu viel Liebe für meinen Sport, als dass man mich als unsportlich bezeichnen könnte."

Was der Sturm der Empörung verschluckte: Die Offiziellen hatten gar nicht wegen unsportlichen Verhaltens disqualifiziert. Zwar hatte ein Kampfrichter dem Franzosen kurz nach dessen Zielankunft eine gelbe Karte unter die Nase gehalten. Später begründete der europäische Verband die Disqualifikation allerdings ausschließlich mit den Regel-Kennziffern 143.1, 143.7. Und die besagen, leicht verkürzt: Ein Athlet hat während des Wettkampfes ein Trikot und eine Startnummer zu tragen.

Personalausweis der Athleten

Die Startnummer ist so etwas wie der Personalausweis der Athleten während des Wettkampfs. Die Kampfrichter sollen jeden Starter rasch identifizieren können, beim Zieleinlauf, wenn es zu Überrundungen kommt oder wenn man den Wettkampf später noch einmal auswerten muss, wegen eines Protestes zum Beispiel. Die Startnummer legt man frühestens nach dem Zieleinlauf ab, auf diese Weise werden Kinder in der Leichtathletik von der ersten Kreismeisterschaft an sozialisiert.

Mit Leichtathletik-Kniggen und Mahiedine Mekhissi ist das allerdings so eine Sache. Im Juli 2011, während des Diamond League Meetings in Monaco, stritt sich Mekhissi mit Landsmann Mehdi Baala im Zielraum, erst verbal, dann handfest. Baala eröffnete den Kampf mit einem Kopfstoß à la Zinedine Zidane, Mekhissi entschied das Duell mit einer Reihe von Links-Rechts-Kombinationen für sich. Zur Belohnung wurden beide für zehn Monate suspendiert.

2010, kurz nachdem Mekhissi das EM-Hindernisfinale in Barcelona gewonnen hatte, bat er Maskottchen Barni, sich hinzuknien - dann stieß er es um. Zwei Jahre später, bei der nächsten EM in Helsinki, war Maskottchen Appy dran, ein quadratischer Klotz, der laut Veranstalter ein mobiles Endgerät symbolisieren sollte, als Zeichen der fortschreitenden digitalen Vernetzung. Mekhissi, vielleicht ein Skeptiker moderner Kommunikation, stieß das Maskottchen heftig zur Seite, Sekunden nachdem er seinen zweiten EM-Titel gewonnen hatte. Im Inneren des Maskottchens steckte eine 14-Jährige.

In Zürich wurde Mekhissi nicht handgreiflich, auch Maskottchen Cooly blieb ersten Gerüchten zufolge unverletzt. Zudem verschaffte Mekhissi sich selbst keinen Vorteil - auch wenn nicht so recht abzuschätzen war, inwieweit er seine Konkurrenten auf der Zielgerade irritiert hatte, die in seinem Windschatten um die verbliebenden Plätze gekämpft hatten.

Aus der Läuferszene kam am Freitag vor allem Kritik. "Gar nicht gut", bewertete Deutschlands 1500-Meter-Starter Homiyu Tesfay das Verhalten, "es gibt klare Regeln, die gelten auch für einen Europameister", assistierte Kollege Florian Orth, "extrem unsportlich", befand DLV-Präsident Clemes Prokop. Selbst die französische Zeitung Le Figaro attestierte Mekhissi eine "närrische Geste".

Vermutlich wird in den kommenden Tagen wieder von den sogenannten "Typen" die Rede sein, Persönlichkeiten, die auffallen, weil sie abweichen von der Norm, Typen, die die Leichtathletik doch brauche. Typen wie Mekhissi. Man darf auch darüber reden, ob man den Leichtathleten etwas mehr Raum zum Jubeln gönnen sollte.

Allerdings sollte dann auch die Rede davon sein, dass die vielfältige Leichtathletik bereits sehr bunte Lebensläufe hervorbringt. Dass auch ruhigen Charakteren Beachtliches innewohnt. Dass es durchaus Möglichkeiten gibt, seine Siege in der Leichtathletik auffällig zu zelebrieren, man darf sich sogar das Trikot ausziehen, siehe Robert Harting. Allerdings erst nach dem Wettkampf.

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