Diego Maradona bei der WM:Trauriges Leben als Konsumprodukt

  • Diego Maradona lieferte beim WM-Spiel Argeninien gegen Nigeria bedenkliche Bilder ab.
  • Er taumelte auf der Tribüne herum, schien kurz zu schlafen und musste gestützt werden - Erklärungen seines Auftritts finden in aller Öffentlichkeit statt.
  • Der Argentinier leidet darunter, dass er viele Bekannte und Begleiter hat, aber wohl wenige echte Freunde.

Von Javier Cáceres , Sankt Petersburg

Zur gleichen Zeit, da Lionel Messi versicherte, er habe gewusst, dass Gott ("Dios") die argentinische Mannschaft nicht verlassen würde, wusste er noch nicht, dass ihm ein anderer Allmächtiger, "D10s", den Rücken zugekehrt hatte. Diego Armando Maradona, den sie daheim unter anderem deswegen "D10s" nennen, weil er zu seiner Zeit als Spieler stets die Rückennummer 10 trug, die sich so gut in das Wort "Dios" integrieren lässt, hatte zwischenzeitlich die Ehrentribüne verlassen müssen - gestützt auf zwei Begleiter, die ihn in einem Raum mit Fenster zum Rasen auf ein Sofa setzten.

Wenig später kursierten Videos, auf denen Maradona auf der Tribüne zu schlafen schien, während das Spiel lief. Wiederum andere Videos verliehen dem ersten Satz des Spielberichts der New York Times ("High in the stand, Diego Maradona...") eine zweite Bedeutung: Maradona, nach eigenen Angaben seit mehr als einem Dutzend Jahren von der Kokainsucht befreit, wirkte wie auf Drogen. Es kursierten Fotos, auf denen Menschen in Uniformen ihm am Handgelenk den Puls fühlten.

Und schließlich kursierten Gerüchte, er sei in ein Krankenhaus in St. Petersburg eingeliefert worden, die erst von seinem Umfeld und später auch von ihm selbst dementiert wurden, in einer WhatsApp-Audionachricht an seine Freundin Rocío. "Es todo muy looooco", sagt er mit einer Zunge, die schwerer wog als der Rettungsring aus Beton, den der Internationale Währungsfonds IWF gerade den Argentiniern zugeworfen hat. "Das ist alles seeeehr verrückt", sprach also D10s. Was wohl einen weltweiten Konsens hervorrufen dürfte.

"Siempre Maradona...", immer Maradona, hieß es in dem legendären Radiokommentar von Víctor Hugo Morales von 1986. Damals, im WM-Spiel gegen England, hatte Maradona so etwas wie die Mona Lisa des Fußballs auf den Rasen gemalt: ein Dribbling, das für sich genommen von atemraubender Schönheit war, aber eben auch deswegen ohnegleichen, weil sich damals noch keines der beiden Länder den irrwitzigen Falklandkrieg von 1982 aus den Kleidern geschüttelt hatte.

Unmittelbar zuvor hatte Maradona den Engländern im gleichen Spiel sozusagen die Brieftasche geklaut: Er hatte ein Tor mit der Faust erzielt und dies danach mit einem unschlagbaren Aphorismus versehen - es sei "die Hand Gottes" gewesen, sagte Maradona. Das halten viele für den einzigen plausiblen Beweis der Existenz eines Allmächtigen, nicht nur in Argentinien.

Was folgte, ist weitgehend bekannt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Maradonas Kreuzigung nach dem Nachweis von Kokainkonsum, Diegos Auferstehung vor der WM 1994 in den USA, die positive Dopingprobe von Dallas (die von vielen Argentiniern auf die CIA zurückgeführt wird), die unglaubliche Verfettung nach dem Karrereende, die Magenverkleinerung, die Entzüge, unter anderem bei Fidel Castro auf Kuba, ein ernüchternder Aufenthalt in der Psychiatrie: "Hier gibt es einen, der sich für Napoleon hält, und einen, der meint, er sei Robinson Crusoe, aber mir glauben sie nicht, dass ich Maradona bin." Später die Aufforderung an die Journalisten, ihm doch bitte schön, pardon, "den Schwanz zu lutschen", nachdem er als Nationaltrainer Argentinien zur WM 2010 in Südafrika geführt hatte, um dort monumental an Deutschland zu scheitern (0:4).

Diego Maradona bei der WM: Ein Mann außer Kontrolle: Diego Maradona.

Ein Mann außer Kontrolle: Diego Maradona.

(Foto: Giuseppe Cacace/AFP)

Seitdem führt er ein Leben als erdrückender, allgegenwärtiger Schatten. Er ist in den Köpfen der Fans, der Journalisten, der Veteranen, die stets bereit sind, Messi mit ihm zu vergleichen und Maradona so zu einem Despoten der Erinnerung gemacht haben. Nicht immer ist er in den Stadien, aber in Russland ist er nun in Geist und Körper da. Bei jedem Spiel der Argentinier. Auch am Dienstag in St. Petersburg, als Argentinien Nigeria 2:1 besiegte.

Er habe nur Nackenschmerzen verspürt

Dort hatte er ein Lächeln auf die Menschen auf den Tribünen gezaubert, als er vor der Partie eine Frau mit nigerianischem Trikot eingeladen hatte, mit ihm eine Cumbia zu tanzen. Später, beim Tor Messis, breitete er die Arme aus und dankte Gott, was nicht weiter selbstreferenziell gemeint war. Dann der erwähnte Kollaps: Er habe Nackenschmerzen verspürt und Medikamente bekommen, die ihn außer Kraft setzten, hieß es nachher. Nun kann die Kombination aus Alkohol und Medikamenten - lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker - schon mal eine ungeheuerliche Wirkung entfalten.

Andererseits lallte Diego seiner Rocío zu ("verbreite das überall!"), dass "kein Alkohol oder andere Geschichten" im Spiel gewesen seien: "Sei ganz beruhigt, meine Liebe." Gleichwohl habe man ihm nahegelegt, das Stadion zu verlassen. Vielleicht, weil sich jemand aus seiner Entourage daran erinnerte, dass er im Januar 2000 in der uruguayischen Stadt Punta del Este einen Herzinfarkt erlitten hatte und dem Tod näher war als dem Leben. Doch er wollte bleiben.

Damals, in Punta del Este, hatte er ein Rückspiel bekommen. Was er nicht bekam: ein Leben, ohne ein Konsumprodukt zu sein, auch ein mediales. Er trug das Seinige dazu bei, er tut es immer noch und wird es wohl immer tun. Er wirkt und verkauft sich noch immer gut, als Populist, Demagoge, Genie, als Reminiszenz an eine glorreiche Zeit.

"Eines Tages wird Diego vom unvergleichlichen Balkon seiner Erinnerung auf sich selbst schauen und sich mit Gelassenheit der einfachen Leute erinnern, die ihn liebten, aber auch der Schleimer, die ihn benutzten, und der Verräter, die ihn einen Moment lang liebten und kurz darauf töteten", schrieb Jorge Valdano, Teamkollege Maradonas in der Weltmeistermannschaft von 1986, in einem Artikel, der voller Selbstvorwürfe war, weil alle dazu beigetragen hatten, Maradona zu dem zu machen, was er ist: ein kaputtes Spielzeug, wie Valdano suggerierte. "Wir hätten ihm die ganze Wahrheit sagen sollen", schrieb Valdano: "'Schau Diego, Du spielst wie ein Gott, doch Du bist nur ein Mensch'". Das war 1996. Doch wie man in St. Petersburg sah, krankt Maradona noch immer daran, D10s zu sein.

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