Die Wandlungen des Diego Maradona: Nach der Agonie in die Glitzerhose:Volles Programm mit halbem Gewicht

Drogen und Exzesse brachten den Fußballheros fast ans Ende, nun fasziniert er die Argentinier als schillernder Fernsehstar und Symbol ihres Landes.

Peter Burghardt

Am Anfang ist da ein großer Ball, der zum Menschen wird, er trägt natürlich die Nummer 10. Die Comicfigur tänzelt über den Bildschirm in diesem Studio am Rande von Buenos Aires und über Millionen argentinische Fernsehapparate. Danach sieht man den richtigen Diego Maradona, den von früher, wie er 1986 den Weltmeisterpokal stemmt.

Dann kommt er leibhaftig: Ins Scheinwerferlicht tritt ein kleiner, aber recht schlanker Mann, auf 1,64 Meter verteilen sich höchstens 70 Kilo. Maradona steckt in einem glänzenden Jackett zur Glitzerhose, beides wird später verlost. An den Ohrläppchen blitzen Brillanten, über dem silbernen T-Shirt hängt ein Kreuz, an beiden Handgelenken Uhren. Strahlend verteilt er Kusshändchen, dazu hämmern Maradona-Lieder. Das Publikum johlt, als laufe der beste Fußballspieler aller Zeiten immer noch in ein Stadion ein. Es ist 22 Uhr. Maradonas Show beginnt.

In den kommenden 150 Minuten wird Maradona einen britischen Rockstar interviewen und mit einer italienischen Diva tanzen. Er wird von einem kubanischen Revolutionsführer schwärmen und den amerikanischen Präsidenten beschimpfen. Er wird mit einem Helden aus alten Zeiten Fußballtennis spielen und Videos seiner Tore bestaunen, als sei er selbst sein größter Fan.

Er wird sich in unbeobachteten Momenten den Schweiß von der Stirn tupfen, den Text vorhalten und wie eine Marionette in Position schieben lassen. Er wird lachen und traurig aussehen und vor sich hin starren. Und halb Argentinien sieht zu bei seiner Sendung "La noche del 10", die Nacht der 10 - das kommt daher, dass Maradona als Chef auf dem Rasen stets die Rückennummer 10 auf dem Trikot hatte. Seit drei Monaten und noch bis kommende Woche ist die Show jeden Montag der Quotenführer. Die Zuschauer erleben eine weitere Folge einer sagenhaften Wiedergeburt.

Gefäße eines Greises

Als Diego Armando Maradona ein Jahr zuvor in den Nachrichten zu sehen war, da wog er 128 Kilo, hatte ein aufgedunsenes Gesicht und sprach unverständlich. Die Tätowierung des Guerillero Che Guevara auf seinem Oberarm zog sich grotesk in die Breite. Zum Übergewicht kamen Diabetes, Niereninsuffizienz, Bluthochdruck und bedrohliche Herzschwäche. Die Ärzte attestierten dem damals 44-Jährigen die Blutgefäße eines Greises, nachts bekam er bis zu zehn Sekunden lang keine Luft.

Nach einer Überdosis Kokain hatte der Patient schon einen Herzanfall gehabt, im März 2005 drohte dem Mythos die Agonie. Maradona lag auf der Intensivstation der Clinica Suiza Argentina von Buenos Aires, und draußen betete das Volk. Das Land bereitete sich vor auf ein Staatsbegräbnis wie einst bei Evita Peron, die mit 33 dem Krebs erlag, oder bei dem Tangosänger Carlos Gardel, der mit dem Flugzeug abstürzte. Auf eine Trauer wie nach der Hinrichtung Che Guevaras, der mit 39 Jahren in Bolivien erschossen wurde.

Maradona aber überlebte und feierte weiter. Er spielte nachts bei fünf Grad im Garten Fußball, bekam eine Lungenentzündung und landete in der Nervenheilanstalt. "Da war einer, der sich für Robinson Crusoe hält, und mir glaubten sie nicht, dass ich Maradona bin", berichtete er danach. Ein Journalist, der ihn gegen Gebühr von 20 000 Dollar für einen italienischen Kanal befragen wollte, traf den Schwerkranken später beim Dauergolfen - auf dem Kopf einen Bergarbeiterhelm mit extrastarker Lampe, um auch im Dunkeln spielen zu können.

Unter seinen Körpermassen zerbrach eine Holzbrücke, außerdem lernte er zufällig einen seiner unehelichen Söhne kennen. Schließlich floh der abgekämpfte Genius im Herbst 2004 unter Tränen zu seinem Freund Fidel Castro nach Havanna, dort hatte er schon eine erfolglose Entziehungskur absolviert und einen Autounfall überstanden. Er erholte sich und reiste in diesem Mai nach Kolumbien. Es begann die Metamorphose.

In Cartagena wurde ihm der Magen um 95 Prozent verkleinert und mit dem Dünndarm verbunden. Binnen sechs Monaten verlor er auch durch andere Maßnahmen fast 60 Kilo Gewicht - seitdem ist die Nachfrage nach solchen Operationen sprunghaft gestiegen, vor allem im figurverliebten Argentinien. Zum 45. Geburtstag veröffentlichte eine Zeitung zwei Fotos aus Maradonas Loge im Stadion Bonbonera, der so genannten Pralinenschachtel des Klubs Boca Juniors, wo er das Spielfeld beherrscht hat und jetzt als Vizepräsident über dem Platz thront.

Links der fette Diego, rechts der dünne, unfassbar. "Das Leben hat mir eine Revanche gewährt", folgerte Maradona. Er saufe und kokse nicht mehr, heißt es, er wohnt wieder bei Eltern und Brüdern. Die Familie inklusive der beiden Töchter wacht nun auch auf der Tribüne vor der weißen Couchgarnitur mit den Maradona-Bildern. "Spektakulär, unglaublich" werde das Programm, ruft Maradona.

Volles Programm mit halbem Gewicht

"Bist du wirklich Diego?", fragt Robbie Williams und schaut erstaunt. Der englische Popsänger ist aus London zugeschaltet und stellt seine aktuelle CD vor. "Du bist einer meiner absoluten Helden." Diego Maradona reibt sich die Hände. "Ich hab' hier deine Platin-CD. Ich nehme sie mit, dann kommst du bald zu mir nach Hause. Wir grillen und spielen Fußball", sagt er. "Wird sie auch da sein?", erkundigt sich Robbie Williams und meint eine der halbnackten Tänzerinnen neben Maradona mit der 10 auf dem Rücken. "Äh, ja", antwortet Maradona leicht verkrampft.

"Und jetzt zur ersten Frage: Wie ist deine neue CD?" Williams: "Oh, 60 Minuten, zwölf Stücke, mein bestes Album. Kann ich mal was fragen? Du siehst so phantastisch aus, Mann. Trainierst du viel, spielst du?" Maradona: "Äh, ich trainiere nicht viel, ich spiele ein bisschen Fußball, bereite mich auf deinen Besuch vor." Williams: "Du singst dann auch mit mir."

Diego Maradona und Robbie Williams verabreden sich also zum Fußball, zum Singen, Grillen und zur Besichtigung argentinischer Frauen. Sie kommen des weiteren überein, dass George W. Bush "ein Idiot" sei und Großbritannien "das Lagerhaus der US-Luftwaffe". Nachher verteidigen sie das Model Kate Moss, das mit Kokain erwischt wurde. "Ich habe mit vielen von denen Drogen genommen, die jetzt schlecht über sie schreiben", sagt Williams. "Mir geht es genauso. Aber der Unterschied ist, dass weder du noch ich die Namen dieser Leute verraten haben. Deshalb können wir ruhig schlafen", sagt Maradona. "Vor allem können wir deshalb ruhig schlafen, weil wir kein Kokain mehr nehmen", sagt Robbie Williams. Applaus, Gelächter.

Solcher Art sind die Gespräche. Später schlägt die Sängerin Raffaela Carrà aus Italien den Gastgeber als künftigen Trainer von Argentiniens Nationalelf vor - und das Thema füllt fortan die Zeitungen des Landes, der Verbandschef bittet sogleich zum Gespräch, niemand will Maradona zum Konkurrenten haben. Einmal hat sich Maradona selbst befragt, und in den nächsten beiden Sendungen ist Fidel Castro sein Partner.

Maradonas Widersprüche

Nach Mitternacht fliegt Maradona nach Kuba. Fünf Stunden dauert die Zusammenkunft mit Kubas Diktator, er bekommt eine olivgrüne Uniformjacke geschenkt und schimpft mit dem Comandante auf Bush. Außerdem kündigt sich Maradona zu einem Protestmarsch beim Amerika-Gipfel an diesem Wochenende in Mar del Plata an. So bestimmt er acht Jahre nach seinem letzten Einsatz als Fußballprofi eine argentinische Woche. Und stillt die Sehnsucht nach der schöneren Vergangenheit.

Horacio Gonzalez streicht sich die graue Mähne aus der Stirn. "Argentinien passt heute in Diegos Magen", gluckst der stellvertretende Chef der Nationalbibliothek, er sitzt in einer verstaubten Bar im Tangoviertel San Telmo beim Kaffee. Dem Soziologen Gonzalez kommt die Renaissance der Ikone vor wie ein wissenschaftliches Experiment: "Sie haben ihn neu erfunden und neu zusammengesetzt." Manchmal bedauert Gonzalez das. "Wenn man ihn kontrolliert, dann verliert er seinen Charme. Maradona lebt von seinen Exzessen."

Doch er amüsiert sich weiterhin über Maradonas Widersprüche. Maradona preist Kommunisten und wählt Kapitalisten. Maradona küsst eine Schauspielerin, die in einem Maradona-Film seine geschiedene Ehefrau gibt und zieht über das Drehbuch her. "Maradona ist der reale Zustand einer großen argentinischen Krankheit", sagt Gonzalez. "Der Spiegel Argentiniens mit seiner Glorie und seinem Versagen."

Argentinier lieben solch bombastische Reflektionen. Vor allem die Bewohner der Hauptstadt neigen dazu, alles entweder besonders toll oder besonders schlimm zu finden. Sie lieben den Seelenstriptease, Buenos Aires zählt die meisten Psychotherapeuten außerhalb Manhattans. Und Gonzalez' Analyse ist nicht schlecht. Das Land und die Stadt gehörten zu den reichsten der Erde, dann ging es im Zickzack bergab.

Volles Programm mit halbem Gewicht

Bis vor vier Jahren wurde der Peso künstlich auf dem Niveau des Dollar gehalten, bis die Regierung den Bankrott erklärte, abwertete und Guthaben einfror. Die Sparer verloren drei Viertel ihres Geldes, Einwandererkinder wanderten in Scharen wieder aus. Jetzt schwindet die Depression, schon zeigt sich erster Überschwang, dabei ist die Krise keineswegs vorbei. Bei Maradona gehen Stimmungswandel in jede Richtung besonders schnell, kürzlich lief dazu ein Musical: "Die Nummer 10 zwischen Himmel und Hölle", hieß es.

Was für ein Aufstieg! Der kleine, pummelige Diego, das Immigrantenkind aus den Slums von Villa Fiorito. "Wenn ich Villa Fiorito definieren müsste, dann würde ich sagen: 'Kampf'", dieses Zitat stammt aus einem Sammelband mit 1000 Maradona-Sprüchen. Mit 17 war er Nationalspieler, mit 25 als Teamkapitän Weltmeister. Seine beiden WM-Treffer 1986 gegen England sind Legende. Beim ersten Tor trickste er fast jeden Engländer einzeln aus, eine spezielle Rache für die Niederlage im Falkland-Krieg.

In Buchläden gibt es zu dem Kunststück ein Heftchen, man lässt die Bildsequenzen wie einen Film durch die Finger laufen, so ein Daumenkino ist sonst nur noch Evita Peron gewidmet. Beim zweiten Tor faustete Maradona den Ball ins Netz und erläuterte nachher, es sei "die Hand Gottes" gewesen. Inzwischen hat er eingeräumt, dass es seine eigenen Finger waren, doch das kommt für seine Jünger auf dasselbe heraus. Pele ist König und Beckenbauer Kaiser - für Maradona gibt es sogar eine Kirche, die Gemeinde betet das "Diegounser" und führt den Kalender nach Diegos Geburtsdatum, dem 30.Oktober 1960.

"Ich will kein Vorbild sein"

2000 ernannte ihn der Weltverband zum Fußballer des Jahrhunderts, da war er bereits eine tragische Figur, umringt von falschen Freunden. Was für ein Abstieg. 1993 schoss Maradona mit der Schrotflinte auf Journalisten, 1994 wurde er von der WM ausgeschlossen. Doping. "Sie haben mir die Beine abgeschnitten", verkündete er weinend. Er schnupfte mehr Kokain. "Am Anfang willst du die Welt aus den Angeln heben", sagte er über die Droge, "danach überkommt dich eine schreckliche Einsamkeit." Er verpflichtete den gedopten Sprinter Ben Johnson als Fitnesstrainer. Ließ seinen roten Ferrari schwarz anstreichen. Er verschleuderte sein Geld und ließ sich ausnehmen. Genau wie Argentinien.

Während seiner Glanzzeit beim AC Neapel häufte er Steuerschulden von 31 Millionen Euro an. Eine geplante Reality Show mit Tanzeinlagen in Italien gab er neulich nach drei Folgen auf, das Finanzamt wollte sein Honorar pfänden. "Alle benützen mich", klagte er einmal. "Lasst mich mein Leben leben, ich will kein Vorbild sein."

Nach einer Stunde umarmt Showmaster Maradona sein eigenes Idol. Es ist der einzige Gast, der ihn an Körpergröße kaum übertrifft, ein unauffälliger Herr mit Halbglatze. Er heißt Ricardo Enrique Bochini, genannt Bocha, und war bis in die frühen achtziger Jahre ebenfalls ein grandioser Mittelfeldspieler, trickreich, wendig. Auch er war eine Nummer 10. Maradona verehrte ihn und fuhr als Kind mit dem Bus zu seinen Spielen. Dann löste er ihn in Argentiniens Auswahl ab. Deshalb blieb Bochini eine lokale Größe, bei einer WM durfte er bloß fünf Minuten lang mitspielen, 1986 beim 2:0 gegen Belgien, beide Tore hatte Maradona geschossen. "Maestro", rief ihm Maradona nach der Einwechslung zu.

Kein Ausländer erkennt Bochini, wenn man ihn im berühmten Café Tortoni trifft, Argentinier aber bitten um Fotos und Autogramme. "Stell' dir vor, Maradona käme jetzt zur Tür rein", flüstert seine Frau. Bochini ist wortkarg und schüchtern. Er hat seinen alten Freund Diego im Krankenhaus besucht und dachte sich: "Ohne Fußball hat er keinen Sinn mehr gesehen, er ist fast erstickt. Jetzt geht es ihm gut, glaube ich."

Die "Nacht der 10" ist das erste Wiedersehen seit der Begegnung in der Klinik. Gegen zwei ehemalige Nationaltorhüter spielen die beiden Fußball über ein Tennisnetz, alle vier haben sich dafür umgezogen. Diego und Bocha tragen die 10, sie gewinnen 11:9. In diesem Moment, den Ball am Fuß, sieht Diego Maradona fast glücklich aus.

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