Die Gladbach-Krise:Wandelnde Fragezeichen

0:3 verloren und drei Elfmeter in 20 Minuten kassiert: In Sevilla wird Gladbachs Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten weiter erschüttert. Trainer Favre würde jetzt gern üben - aber der Spielplan lässt ihm keine Zeit.

Von Ulrich Hartmann

Lucien Favre hatte keine Zeit zu verlieren. Am Mittwoch um 14.12 Uhr ist der Trainer mit seinen Mönchengladbacher Fußballern nach knapp dreistündigem Flug aus Sevilla schon wieder in Düsseldorf gelandet. Aus dem Flughafen ging es in den Bus, mit dem Bus eine halbe Stunde nach Mönchengladbach und dort gleich auf den Übungsplatz. Wenn es nach Favre ginge, würde er das Trainingsgelände im Borussia-Park in den kommenden zwei Wochen gar nicht mehr verlassen und von morgens bis abends üben, üben, üben - aber das hielten die strapazierten Fußballerkörper natürlich nicht aus. Favre muss jetzt die Belastungsgrenze ausreizen.

Mit fünf Niederlagen aus fünf Pflichtspielen sind die Gladbacher in die Saison gestartet. Fünf weitere Spiele binnen zwei Wochen liegen vor ihnen, bevor endlich die Länderspiel-Pause kommt. Die nächsten fünf Spiele im Samstag-Mittwoch-Samstag-Rhythmus dürften über die mittel- fristigen Perspektiven der Borussen entscheiden. Die 0:3-Niederlage beim FC Sevilla am Dienstagabend im ersten Champions-League-Spiel hat das Vertrauen der Gladbacher in ihre eigenen Fähigkeiten derweil weiter erschüttert. 2:14 lautet das Torverhältnis aus den fünf Niederlagen.

In der Rückrunde der Vorsaison hat die Elf nur zehn Tore kassiert. Nun sind es 14 in fünf Spielen

"Wir kriegen nach vorne nicht viel hin", sagt Angreifer André Hahn. "Wir müssen in der Defensive wieder eine Macht werden", sagt Torwart Yann Sommer. Und damit sind die Aufgaben fürs Training schon deutlich umrissen.

42:58 Prozent Ballbesitz, 15:54 gefährliche Angriffe, 1:5 Ecken, 0:3 Elfmeter, 0:3 Tore - so liest sich die Gladbacher Bilanz aus Sevilla und verrät doch nur ansatz- weise, wie karg, einfalls- und freudlos sich der Gladbacher Fußball ausgerechnet zum Comeback im wichtigsten Europapokal-Wettbewerb nach 37 Jahren präsentierte. Ohne Selbstvertrauen, ohne Inspiration, "ohne Tempo und Antizipation", wie Favre ergänzte, waren die Gladbacher in Andalusien chancenlos, weil sie fast ausschließlich passiv agierten und versuchten, ein 0:0 zu ermauern. Das misslang, weil Sevilla dafür zu stark und Gladbachs Abwehr zurzeit zu schwach ist. Torwart Sommer (46.) sowie die Innenverteidiger Roel Brouwers (49.) und Tony Jantschke (66.) verursachten in den ersten 21 Minuten nach der Pause drei mehr oder weniger vertretbare Elfmeter, von denen die Spanier den ersten und den dritten verwandelten. Beim 0:3 (84.) boxte sich dann Torwart Sommer eine Flanke ins eigene Tor.

Vier Jahre hat Gladbach unter Favre gebraucht, um sich aus einer Kontermannschaft in eine souveräne Ballbesitzmannschaft zu verwandeln. Und jetzt hat es nur ein paar Wochen gedauert, um die Entwicklung - zunächst - wieder umzudrehen.

Zehn Gegentore hatten die Gladbacher in den 17 Spielen der vergangenen Rückrunde zugelassen, nun sind es schon 14 in fünf Spielen. Die Borussia ist nicht wiederzuerkennen. Zwar haben Max Kruse und Christoph Kramer den Verein verlassen, zwei zentrale Spieler, und fünf weitere Profis fehlten in Sevilla gesperrt oder verletzt - aber das kann kaum reichen als Begründung dafür, warum fast alle neben sich stehen. Die in der vergangenen Rückrunde souveränen Verteidiger Brouwers und Jantschke parodieren sich selbst, die Mittelfeldmänner Havard Nordtveit und Lars Stindl wirken an der Schnittstelle zwischen Defensive und Offensive überfordert, die Körpersprache von Spielgestalter Raffael signalisiert Verzweiflung. Als Manager Max Eberl nach dem 0:3 sagte, "die Ansätze waren okay, wir haben eigentlich ganz ordentlich verteidigt", war das euphemistisch. Das Team ist verwundet, und jedes Gegentor wirkt wie ein weiterer Stich.

Dankbar für die Jahre davor: Sportchef Max Eberl nennt Trainer Favre "unrauswerfbar"

Exemplarisch für die Irrationalität solch einer kollektiven Schaffenskrise steht der Abwehrspieler Jantschke. Der 25-Jährige hat die ganze Favre-Ära seit dem Februar 2011 mitgemacht und ist für den Trainer ein Lieblingsspieler, weil er vielseitig einsetzbar, kaum schwankungsanfällig und stets von großer Leidenschaft beseelt ist. Auch Jantschke ist in diesen Tagen ein wandelndes Fragezeichen. "Das ist zurzeit eine schwere Phase für uns Verteidiger", sagte er nach der Blamage in Sevilla, "gerade weil die Abwehr vier Jahre lang unser Prunkstück war." Jetzt so viele Gegen- tore zu bekommen, tue "sehr, sehr weh".

Sechs Jahre ist es her, dass der Trainer Favre eine so schwierige Phase nach einer zuvor erfolgreichen Saison schon einmal erlebt hat. Im Herbst 2009 verlor er mit Hertha BSC sieben Bundesligaspiele nacheinander - und wurde entlassen. Dieses Schicksal droht ihm in Gladbach erst mal nicht. Man ist ihm dort viel zu dankbar für den Aufschwung der vergangenen Jahre. Sportchef Eberl nennt Favre "unrauswerfbar". Und doch drängt sich der Verdacht auf, Favres Fähigkeiten als Trainer mit herausragendem Geschick im taktischen Bereich sei in der mental-seelischen Komponente bisweilen verbesserungswürdig. Favre will die Krise mit "viel, viel Arbeit" bewältigen. Genau damit haben sie am Mittwoch kurz nach der Landung begonnen.

Am Samstag spielt Gladbach beim 1. FC Köln. Die Rivalität mit dem Rheinnachbarn soll zusätzliche Leidenschaft entfachen. Soweit zumindest die Theorie.

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