Die Abstiegs-Konferenz:"So nah am Abgrund. Und dann überglücklich."

Sechs Teams mussten noch um den Klassenerhalt zittern. Der HSV lag lange auf Platz 18, Freiburg wurde runtergereicht. Zum Nachlesen: die Chronologie des entscheidenden Nachmittags.

Von Filippo Cataldo

Es sollte der spannendste Abstiegsspieltag aller Zeiten werden. Das irrste Finale dieser an der Spitze wieder früh entschiedenen Meisterschaft. Und die Ausgangslage war ja auch extrem interessant: Am 34. Spieltag konnten noch sechs Mannschaften absteigen, von Hertha BSC über Freiburg, Hannover, Stuttgart, HSV und Paderborn. Platz 13 und 18 trennten nur vier Punkte. Zudem spielten vier der sechs Kandidaten gegeneinander, Paderborn gegen Stuttgart, Hannover gegen Freiburg. Und dem HSV (gegen Schalke) drohte der erste Abstieg der Geschichte. "Das Schicksal hat es so gewollt, dass am letzten Spieltag noch sechs Mannschaften runtergehen können", sagte Franz Beckenbauer vor dem Spiel.

Recht spannend war der 34. Spieltag dieser Saison dann wirklich, auch wenn das Ergebnis denkbar unspektakulär ist: Der SC Freiburg und Paderborn steigen ab und werden von Freund wie Feind bedauert. Der HSV kann langsam einen Stammplatz in der Relegation buchen. Der VfB und Hannover retten sich. Ganz klassisch. Mit Siegen. Die Chronologie eines Tages voller Tränen und Tragödien.

15.32 Uhr: Yuya Osako trifft zum 1:0 für den 1. FC Köln. "Tor in Köln!", rufen sie auch im Bayerischen Rundfunk, bei "Heute im Stadion". Gerade möchte man sagen, wen interessiert heute ein Treffer für den FC? Da rufen sie bei Sky: "Tor in Hannover!" Hiroshi Kyotake macht mit einem schönen Flugkopfball das 1:0 für Hannover, der Sportclub ist in diesem Moment auf dem Relegationsplatz. Der VfB gerettet, Paderborn unten. Und der HSV? Auf Platz 17.

15.33 Uhr: Nichts ist so alt wie die virtuelle Tabelle von eben. Der HSV ist plötzlich 18. Obwohl nichts passiert ist in Hamburg. Marc Vucinovic kommt in Paderborn rund 18 Meter vor dem Tor ganz frei an den Ball, nimmt Maß, schießt, trifft. Die Ostwestfalen führen mit 1:0, der VfB in diesem Moment auf Platz 17. Paderborn auf dem Relegationsplatz, Freiburg gerettet. Der HSV ohne Eigeneinwirkung 18.

15.36 Uhr: In Frankfurt steht es schon 1:1. Die Abstiegskandidaten atmen durch. Genug Tore für die ersten Minuten.

15.38 Uhr: Anthony Modeste macht das 1:0 für Hoffenheim. Hertha, ohnehin nur im Abstiegskampf, damit im Hauptstadtfußball auch mal was Spannendes passiert, bleibt auf Platz 14. Doch zum Abgrund hat die Hertha nun nur noch einen Punkt Vorsprung. Ein Schrittchen noch, und sie taumeln. Aber fallen sie auch? Der HSV bleibt natürlich auf Platz 18.

15.46 Uhr: In Hamburg liegt Pierre-Michel Lasogga im Strafraum. Im Schalker. Elfmeter? Ach, iwo! Lasogga ist über die Beine eines Verteidigers gestolpert - nachdem dieser den Ball weggeschlagen hat. Bruno Labbadia hält sich an seiner Nase fest. Der HSV bleibt 18. Da stand im Februar übrigens noch Borussia Dortmund.

SC Paderborn VFB Stuttgart 1 2 23 05 2015 Trainer Huub Stevens VFB umarmt Trainer André Breiten

Trost durch den Gewinner: Stuttgarts Trainer Huub Stevens nimmt nach Spielschluss Paderborn-Coach André Breitenreiter in den Arm.

(Foto: imago)

15.54 Uhr: Im Radio schwärmt Felix Neureuther über Jürgen Klopp. "Ich hatte das Glück, ihn mal kennenlernen zu dürfen. Er ist ein überragender Typ, absolut einer für Bayern", sagt der Skistar, der zusammen mit Karl-Heinz Kas bei "Heute im Stadion" aus der Arena kommentieren darf. Nur: Wen interessiert gerade der FC Bayern? Wen Jürgen Klopp? Es geht um Abstiegskampf, Leute! Abstiegskampf! Aber da passiert gerade nicht so viel.

15.55 Uhr: Rudi Völler hat da übrigens einen Vorschlag gemacht heute. Via "Bild" hat Leverkusens Sportchef gefordert, die Spiele der Abstiegskandidaten sollen am letzten Spieltag losgelöst werden von den restlichen Partien. "Alle Fans würden jubeln, fänden die vier Spiele um den Klassenerhalt gleichzeitig abends statt, zum Beispiel um 18.30 Uhr. Das wäre ja auch keine Wettbewerbsverzerrung", sagte er. In Italien sei das üblich. "Man belächelt die Italiener oft, aber bei der Spielplangestaltung sind sie flexibler", findet Völler.

15.56 Uhr: Kein Abstiegsspiel, aber trotzdem: Levin Öztunali trifft zum 1:2 für Werder in Dortmund. Der ist bekanntlich der Enkel von Uwe Seeler - und gerade könnte der HSV einen Seeler oder Öztunali oder zumindest einen Karsten Bäron ganz gut brauchen. Lasogga nämlich muss jetzt verletzt raus. Für ihn kommt der Sportskamerad Rudnevs. Der ist zwar nicht der Enkel von Uwe Seeler, aber immerhin Stürmer.

16.04 Uhr: Auch Hannover muss früh auswechseln. Edgar Prib muss runter, er hat sich ohne Fremdeinwirkung verletzt. Für ihn kommt Karaman. Und der HSV? Bleibt auf Platz 18. Ob mit oder ohne Fremdeinwirkung, die Bundesliga-Uhr bliebe bald dunkel.

16.05 Uhr: Filip Kostic erinnert sich daran, dass er einer der besten Flügelspieler der Rückrunde gewesen ist. Der Stuttgarter flankt, Daniel Didavi schießt. Bamm, 1:1. Niemanden hält es mehr auf der VfB-Bank, alle stehen sie jubelnd auf, Co-Trainer Armin Reutershahn läuft fast auf den Rasen. Alle jubeln, bis auf Huub Stevens. Der bleibt sitzen. Der VfB klettert durch das 1:1 auf den Relegationsplatz, Paderborn wäre jetzt als 18. abgestiegen. Und der HSV? Tut weiter so, als ob ihn der Abstiegskampf nichts angehen würde. Er ist wieder auf Platz 17. Ganz ohne Eigenbeteiligung, in Hamburg passiert auf dem Rasen nämlich ungefähr: nichts.

16.14 Uhr: Ginczek,Ginczek, Ginczek, Ginczek - daneben. Eine VfB-Torchance wie ein verunglückter Ausdruckstanz. Daniel Ginczek sprintet und windet sich an allen Gegenspielern vorbei, drängt von rechts in den Strafraum ein, selbst der Torwart scheint vor Schreck erstarrt als er den Stürmer auf sich zulaufen sieht - und dann schießt er vorbei. Das hätte die Führung sein müssen für Stuttgart. Der VfB bleibt also auf dem Relegationsplatz, Paderborn weiter Letzter. Und der HSV? Platz 17. In Hamburg sagt man Tschüss.

Herta Berlin's coach Dardai gestures during their German first division Bundesliga soccer match against TSG 1899 Hoffenheim in Sinsheim

Unzufrieden: Pal Dardais Hertha liegt früh gegen Hoffenheim zurück. Sollte da etwa noch Ungeheurliches passieren?

(Foto: Ralph Orlowski/Reuters)

16.17 Uhr: In Hamburg wird zur Pause gepfiffen. "Der Dino wankt", schallt es aus dem Radio. "Die Spieler gehen in die Kabine, wissen aber, ein Tor würde ihnen reichen. Ein einziges Tor." Mag ja sein. Aber wie will dieser HSV auch nur ein Tor erzielen?

16.35 Uhr: Wie? So! Olic! Olic! Olic! Wer hat nochmal gesagt, dass der HSV keine Tore schießen kann? Djourou leitet den Ball mit der Hacke oder dem Unterschenkel oder der Hüfte irgendwie auf Olic, der eiskalt einnetzt. 1:0. Und plötzlich wäre der HSV gerettet. Als 15. Stuttgart auf Platz 17. Freiburg auf dem Relegationsplatz.

16.44 Uhr: Dietmar Beiersdorfer schüttelt auf der Tribüne den Kopf, Bruno Labbadia ballt die Fäuste. Der HSV beginnt jetzt plötzlich, wie eine Fußballmannschaft aufzutreten. Freistoß Holtby, Kopfball Rajkovic, 2:0. Hamburg jetzt auf Platz 15, Freiburg auf dem Relegationsplatz, Stuttgart und Paderborn auf den Abstiegsrängen.

16.52 Uhr: Vor dem Anpfiff ist Huub Stevens bei Sky gefragt worden, was er in den Augen seiner Spieler gesehen habe, als er auf den Platz gegangen sei. "Dass sie zwei Augen haben", hat der VfB-Coach darauf gesagt, knorrig-cool wie immer. Man mag seinen Spielern ein wenig seiner Abgezocktheit wünschen. Eben hat Martin Harnik das Kunststück fertig gebracht, den von Filip Kostic in seine Bahn gespielten Ball rutschend rechts neben das Tor zu setzen. Es bleibt beim 1:1, der VfB müsste in 20 Minuten den Abstieg erklären.

16.57 Uhr: Kostic will sich nicht mehr auf seine Mitspieler verlassen, macht es lieber selbst, zieht aus rund 20 Metern ab und gibt der Kugel richtig schön Effet mit. Etwas zu viel. Der Ball fliegt am Tor vorbei.

16.58 Uhr: Maxim, eben erst eingewechselt, passt in die Gasse. Daniel Ginczek sprintet, erreicht den Ball, schießt, trifft, Stuttgart führt, der VfB bliebe erstklassig. Freiburg wäre dagegen abgestiegen. Und der HSV? Dürfte langsam einen Stammplatz in der Relegation buchen.

16:59: Jetzt machen die Berliner dann auch mal mit: Roy Beerens, gerade eingewechselt, trifft zum 1:1 in Sinsheim. An der Tabelle ändert sich nichts. Aber jetzt wissen wir auch, wieso Trainer Pal Dardai seine Spieler vorher als Zielfußballer bezeichnet hat. "Unser Ziel: Liga zu halten, so werden wir spielen", hat er bei Sky gesagt.

17.07 Uhr: Roberto Firmino trifft zum 2:1 für Hoffenheim. Und Hertha ist plötzlich mittendrin im Schlamassel. Nur noch neun Tore trennen den Hauptstadtklub jetzt vom Relegationsplatz. Der VfB ist sogar auf Platz 14 jetzt. Doch sollte Paderborn noch ein Tor machen, wäre Stuttgart abgestiegen. Die Relegation können die Schwaben gar nicht mehr erreichen. Langsam wird's dann doch spannend im Abstiegskampf. Der HSV ist 16. Freiburg und Paderborn machen Winke-Winke.

SC Paderborn - VfB Stuttgart

Das Ende der minimalen Paderborner Hoffnungen: Stuttgarts Daniel Didavi (l.) gleicht aus.

(Foto: Jonas Güttler/dpa)

17.11 Uhr: Hannover jubelt, Aristide Briand trifft zum 2:0, Christian Streich rudert mit den Armen. Weiter, immer weiter, will Freiburgs Trainer seinen Jungs sagen. Aber er ahnt wohl schon, dass er bald Coach einer Zweitligamannschaft sein wird. Freiburg mag in den letzten Monaten viel Pech gehabt haben und viele Punkte liegen gelassen haben, aber heute war Hannover einfach zwingender. Wenn es so bliebe, wäre Freiburg mit 34 Punkten abgestiegen. Der HSV stünde mit 35 Zählern auf dem Relegationsplatz. Der VfB mit 36 auf Platz 14.

17.16 Uhr: In Paderborn macht Stevens Alexandru Maxim nun zum Rein-Raus-Maxim. In der 69. Minute hat er seinen Spielmacher erst gebracht, in der 72. Minute hat Maxim mit einem Traumpass das 2:1 vorbereitet, in der 90. Minute darf er wieder runter. Stevens bringt Georg Niedermeier, einen Verteidiger. Maxim flucht, Stevens umarmt ihn. Dutt auch. Dann auch Reutershahn. Maxim flucht nicht mehr.

17.17 Uhr: Der HSV gewinnt mit 2:0. Die Spieler würden gerne feiern, aber sie dürfen noch nicht. Bruno Labbadia vergräbt die Hände in seiner Hosentasche, Peter Knäbel gibt schon Interviews, lässt sich die Zwischenstände aus den anderen Stadien sagen und kann auch nur feststellen, dass in Paderborn und Hannover noch gespielt wird. Rafael van der Vaart umarmt Labbadia, der dafür sogar kurz die Hände aus den Taschen nimmt. Dann schaut er nach oben. Auf die Bundesliga-Uhr? Auf die Anzeigetafel? Zu Gott?

17.18 Uhr: Stevens rudert mit den Armen, er ruft aufs Feld, will unbedingt nochmal auswechseln. Zeit gewinnen. Kostic nimmt sich ein Herz, foult den nächstbesten Gegner im Mittelfeld, kassiert seine fünfte gelbe Karte und lässt sich auswechseln. Stevens und Kostic haben ein paar Monate gebraucht, um zusammenzufinden, doch jetzt scheint sich da ein neues Traumduo gefunden zu haben. Schade, dass Stevens' Mission nach diesem Spiel zu Ende sein wird. Dass der Niederländer wieder in den Ruhestand wechselt, ist ja das schlecht gehüteste Geheimnis der Bundesliga.

17.19 Uhr: Schlusspfiff in Hannover, Stuttgart gewinnt 2:1, schafft den Klassenerhalt. Jetzt hält es wirklich niemanden mehr auf der VfB-Bank. Alle jubeln, rennen aufs Spielfeld. Auch Stevens, der Retter von 2014, der Retter von 2015. Jürgen Sundermann heißt seit den 80er-Jahren Jürgen Wundermann, Stevens sollten sie in Huub Rettermann umtaufen. Rettermann, klingt nicht nur toll, kann man auch gut auf Plakate malen. In Hannover keimt auch bei den Freiburgern wieder leise Hoffnung auf. Nils Petersen, der Joker vom Dienst, hat es schon wieder getan. In der Nachspielzeit trifft er mit einem wuchtigen Schuss zum 1:2. Geht noch was? Ein Remis, und Freiburg wäre gerettet, der HSV müsste in die zweite Liga, die Hertha in die Relegation.

Hannover 96 v SC Freiburg - Bundesliga

Tristesse in Schwarz und Rot: Freiburgs Fans müssen sich auf mindestens ein Jahr Zweitklassigkeit einstellen.

(Foto: Ronny Hartmann/Getty Images)

17.21 Uhr: Stevens umarmt jeden, der ihm über den Weg läuft. Auch Paderborns Coach Breitenreiter. Der will das aber gar nicht, nimmt die Umarmung eher widerwillig hin, befreit sich schnell aus der Umklammerung, dreht sich weg. Stevens klatscht in seine Richtung, Breitenreiter sieht etwas angeschlagen aus, fängt sich aber gleich wieder. Serey Dié und Antonio Rüdiger tanzen oberkörperfrei. "Wir waren so nah am Abgrund. Jetzt sind wir überglücklich", sagt Sportchef Robin Dutt. Und wann kommt jetzt Alexander Zorniger als Stevens-Nachfolger? "Bitte lasst uns heute den Klassenerhalt genießen", fleht Dutt. "Heute Abend will ich ein Glas Rotwein trinken. Vielleicht auch zwei."

17.22 Uhr: Nichts war es mit der Freiburger Aufholjagd, es bleibt beim 1:2, der Sportclub muss runter. Hannover rettet sich trotz nur zwei Siegen im Jahr 2015, bleibt erstklassig. Michael Frontzeck fragt erstmal nach: "Ist es richtig, dass Freiburg jetzt abgestiegen ist? Ja? Das ist lächerlich, sie haben es nicht verdient." Ändert aber nichts daran, dass er sich natürlich über die Rettung der 96er freut.

17.22 Uhr: Vor Wochen wurde der VfB in den sozialen Netzwerken noch mit Häme überschüttet wegen ihrer Nichtabstiegskampagne in halbfalschem Schwäbisch. #mirschaffendas hatte der Klub als Losung ausgegeben. Jetzt schicken sie auf Twitter den Hashtag der Stunde raus. Und diesmal gibt es am Schwäbischen nichts zu Meckern. #mirhendsgschafft schreibt der VfB. Haben sie.

17.25 Uhr: Der HSV bleibt nach Freiburgs Niederlage auf dem Relegationsplatz. Lewis Holtby hat sich sein Trikot ausgezogen, Johan Djourou winkt unentwegt den Fans zu, mit einem fetten Lächeln im Gesicht. Der Anhang nimmt es eher hanseatisch zur Kenntnis. Sollen die Spieler doch erstmal die Relegation überstehen. Egal, gegen wen der HSV dort nun am 28. Mai und 1. Juni spielt, für Trainer Bruno Labbadia wird es eine Begegnung mit einem seiner Ex-Klubs. Er stürmte einst sowohl in Darmstadt, als auch Karlsruhe und Kaiserslautern.

17.28 Uhr: Franz Beckenbauer findet vor allem den Freiburger Abstieg traurig: "Der Christian Streich ist ein Unikum, er und seine Mannschaft haben so viel Pech gehabt in dieser Saison. Jetzt haben sie endlich den Zuschlag bekommen, ein neues Stadion zu bauen und dann steigen sie ab. Es passt nicht. Schade."

17.31 Uhr: Auf Twitter begrüßt das Social-Media-Team von RB Leipzig derweil Freiburg und Paderborn besonders, nun ja, einfühlsam und niveauvoll in der zweiten Liga. "Wichtige Info für die kommende Zweitliga-Saison: Der @sc_freiburg und @SCPaderborn07 spielen 2015/2016 u.a. gg #DieRotenBullen!", schreiben sie. Es folgt: ein Shitstorm. Und eine Entschuldigung.

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