Deutscher Fußball:Der DFB ist der Wirklichkeit entschwebt

WM 2018 - Training Deutschland

Bundestrainer Joachim Löw und Jérôme Boateng (r.).

(Foto: dpa)

Die Fußballwelt ordnet sich bei der Weltmeisterschaft gerade neu - ohne Deutschland. Der DFB ist nun gefordert, alte Privilegien abzuschaffen.

Kommentar von Thomas Kistner

Dass bei Weltmeisterschaften häufig mal das Genre neu geordnet wird, liegt in der Natur der Sache. Reinhard Grindel kennt sich da aus, der Chef des Deutschen Fußball-Bundes hat nach dem K.o. von Kasan formuliert, worauf es nun ankomme: Man müsse "die tief greifenden Änderungen, die wir jetzt brauchen, auf den Weg bringen". Begonnen haben die DFB-Oberen ihre tief greifenden Änderungen nun so, dass sie Joachim Löw mit warmen Worten zum Bleiben animieren. Jogi, den Mann mit den großen Verdiensten, der aber auch der weltentrückte Coach des Selbst-K.o. von Kasan ist.

Vielleicht sind das ja nur erste, unkontrollierte Zuckungen eines abgestürzten Noch-Weltmeisters. Allerdings nähren sie den Verdacht, dass im DFB nicht wirklich begriffen wird, was sich in Russland gerade abspielt. Dort wird die Fußballwelt neu geordnet, und die Deutschen spielen vorläufig keine Rolle mehr. Sie sind ja nicht nur einfach ausgerutscht - sie hatten traditionell mediokren Teams aus Mexiko, Südkorea, Schweden und deren herkömmlichen Strategien nichts entgegenhalten können: brav strampelnden Teams, die man eher nicht im Viertelfinale erwartet.

Das zeigt, wie weit die deutsche Auswahl nach dem Triumph 2014 ihrer Sportart entschwebt ist. Aber nicht dorthin, wo sie sich bis zuletzt selbst verortete: über allen fußballerischen Profanitäten. Entschwebt ist der Nationaltross in eine Komfortzone, die ihren Helden nur das Beste bot; zur Not (Gündogan, Özil & Erdogan) ließ sich auch im Handumdrehen ein Treffen beim Staatsoberhaupt arrangieren.

Brasilien 2014 war der Höhe-, aber auch ein Wendepunkt

Hymnisch besungene Produktoffensiven ("La Mannschaft" bzw. "Best Never Rest", unterwegs mit der "Fanhansa") ergänzten noch im Turnierstress die merkantile Selbstoptimierung, vom eigenen Coiffeur bis zu Dokumentarfilmern, die eher nicht die Untergangsgeschichte ihrer Helden erzählen wollten. Und das Publikum? Akzeptierte am Ende sogar höfische Protokollregeln. Als der Bundestrainer seinen keineswegs unumstrittenen Kader vorstellte, war jede Nachfrage verboten.

In all der sumpfigen Selbstgewissheit ging unter, dass nebenbei etwas zurückerobert werden musste: die sportliche Vorherrschaft. Die ist ja schon vor geraumer Zeit verloren gegangen; Brasilien 2014 war der Höhe-, aber eben auch ein Wendepunkt. Die Bundesliga ist zur Endlosschleife verkümmert, deren Restspannung sich aus Fragen destilliert wie der, ob der Hamburger SV oder der VfL Wolfsburg in die Abstiegsrelegation gehen. Die Europa League erlebte deutsche Teams nur als Kanonenfutter, und der Alleinherrscher FC Bayern, auf den sich alle deutsche Fußballglorie fokussiert, erscheint mangels gehobener Wettkampfpraxis zunehmend unfähig, gegen Widersacher zu bestehen, die ein einzelnes Spiel wirklich einmal gewinnen wollen. Ob Real Madrid, der VfB Stuttgart oder Eintracht Frankfurt.

Die neue Weltordnung, die sich in Russland abzeichnet, verheißt da nichts Gutes. Sie zeigt Stillstand in Afrika und Asien; sie zeigt die üblichen Vertreter Südamerikas, die nun auch von der großen Toleranz in Sachen Zweikampfhärte profitieren, welche die Fifa unter ihrem Wackelpräsidenten Infantino gewährt. Aber vor allem zeigt sie, dass Europa mehr denn je das Maß aller Dinge ist - ohne die Deutschen. So, wie es in Europas Wettbewerben ja gut zu sehen ist, vorneweg in der Champions League, jenem Bewerb, der spielerisch auch dieses WM-Turnier klar überragt (sieht man von einzelnen Highlights ab).

Der deutsche Fußball muss in die neue Weltordnung zurückfinden. Er muss aus dem in Ehrfurcht vor kickenden Legenden erstarrten, jetzt auch noch arg verschreckten Unterbau das Personal herausfiltern, das wirklich hungrig ist. Er muss die Privilegienwirtschaft abschaffen und wieder echte Basisarbeit leisten, etwa in Hinblick auf eine untergegangene Spezies: Es braucht echte, torgeile Stürmer.

Erfolgsprozesse überleben sich. Nichts belegt das klarer als die Nibelungentreue, die Löw seinen Weltmeistern erwies, und auch seiner persönlichen Kader- und Spielphilosophie. Oben angelangt, störte alles, was zu frisch, ungestüm oder der Tafelritter-Runde von Rio nicht zugehörig war. Jetzt braucht es etwas Neues.

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