DFB-Torwart:Zur Not steht hinten der algerische Neuer

Manuel Neuer

Manuel Neuer ist bewusst, dass für ihn und seine Mannschaft mit dem Spiel gegen die Slowakei eine ganz andere Turnierphase beginnt.

(Foto: AP)

Bei der WM 2014 glänzte Manuel Neuer im Achtelfinale mit einer eigenwilligen Interpretation seiner Torhüter-Rolle. Auch auf seinen Auftritt gegen die Slowakei hat er sich penibel vorbereitet.

Von Philipp Selldorf, Évian

Noch ist nicht in allen Details erforscht, wie die Nationalspieler während der Europameisterschaft in Frankreich ihre Zeit verbringen, wenn sie nicht gerade ein Spiel gegen Nordirland austragen oder eine Trainingseinheit bestreiten, was ja jeweils recht selten vorkommt. Das Publikum darf sich zwar gelegentlich an Fotos der Fußballer erfreuen, die sie bei Tennis-, Golf- und Wasserspielen zeigen, und Mesut Özil hat neulich verraten, dass "chillen" zu den bevorzugten Beschäftigungen gehöre. Aber es ist auch nicht so, als ob die Profis hinter den Hecken und Zäunen des Teamhotels "Ermitage" ausschließlich um Zerstreuung bemüht wären. Viele halten auch Anschluss an das Weltgeschehen.

Torwart Manuel Neuer erzählte am Freitag, dass am Vormittag im Mannschaftskreis das Thema Brexit diskutiert worden sei, und zwar nicht unter dem Aspekt der Auswirkungen auf den Transfermarkt der Premier League und der Teilhabe am neuen englischen Fernsehvertrag. Neuer stellte stattdessen fest, ihm persönlich sei an diesem Freitag ein Stück seines Weltbildes verloren gegangen, "man hatte immer ein Einheitsgefühl", sagte er und nannte die Entscheidung der Briten "schade".

Andererseits braucht jetzt niemand zu meinen, dass Neuer aufgrund melancholischer Anwandlungen seinen aktuellen Daseinszweck aus den Augen verlieren könnte. Dem Torwart ist schon bewusst, dass für ihn und seine Mannschaft mit dem Spiel gegen die Slowakei am Sonntag in Lille nicht nur die zweite, sondern auch eine ganz andere Turnierphase beginnt. "In der K.o.-Phase kann in einem einzigen Spiel alles passieren", sagt Neuer. Dass ein einziges Spiel alle hochfliegenden Erwartungen brutal einfangen kann, das hat er vor zwei Jahren selbst erfahren, als die deutsche Mannschaft in Porto Alegre im WM-Achtelfinale gegen Algerien spielte.

Neuer, der Verwandlungskünstler

Später, als das Turnier längst vorbei war, da waren sich die deutschen Spieler darüber einig, dass Algerien der stärkste Gegner war, dem sie im Laufe der WM begegnet waren - Finalgegner Argentinien inbegriffen. VOR dem Algerien-Spiel hingegen waren sich die deutschen Spieler darüber einig, dass ihnen im Achtelfinale eine Herausforderung von überschaubarem Schwierigkeitsgrad bevorstünde.

Hätte Manuel Neuer in Porto Alegre nicht als Verwandlungskünstler agiert und gleichzeitig die Aufgaben des Torwarts, des rechten und linken Außen- und des Innenverteidigers versehen, dann wäre Deutschland jetzt nicht aktueller Weltmeister und dann wäre Jogi Löw womöglich nicht mehr Bundestrainer und überhaupt wäre alles dann ganz anders.

Neuer studiert Youtube-Videos

Auf Neuer darf sich Deutschland wieder verlassen, wenn es nun darum geht, das nächste Viertelfinale zu erreichen. Seine Qualitäten als Torwart für den verschärften Wettkampf sind unbestritten, der 30-Jährige ist ein Finalrunden- und K.o-Phasen-Torwart, der für alle Varianten die richtige Haltung mitbringt. Neuer führt die nötige Siegesgewissheit mit sich, aber er ist nicht der Typ von Fußballprofi, der vor einem vermeintlich leichten Spiel gegen den SV Wehen oder gegen die Slowakei den Sieg voraussetzt. Seine Anspannung in Erwartung des Slowakei-Spiels war am Freitag durchaus zu spüren, doch es ist sicher nicht die Sorte Anspannung, die ihm wacklige Knie bereitet.

Mit der Vorbereitung auf die Slowakei hat Neuer bereits am freien Tag begonnen, die Videoschulung in der Mannschaftssitzung wird ihm wohl nicht mehr viel Neues bringen, denn Neuer hat bereits in eigener Initiative mehrere Lehrvideos studiert - auf Youtube. Dort hat er sich unter anderem über den slowakischen Meisterschützen Marek Hamsik informiert. Die Fernschüsse, die Hamsik beim SSC Neapel absetze, "die kennt ja jeder", hat Neuer am Freitag behauptet.

"Wir versuchen Ergebnis-Fußball zu spielen", sagt Neuer

In seinem Nationalteam habe Hamsik zwar einen anderen Job als bei Neapel, da müsse er mehr in der Tiefe arbeiten, hat Neuer erkannt, dennoch ruft er die Mitspieler zur Beobachtung des gefährlichen Mannes auf: "Wichtig ist, dass unsere Sechser frühzeitig da sind und ihn stören, damit er sich nicht den Ball vorlegen kann."

Womöglich wird Neuer auch am Sonntag auf dem neuen Rasen in Lille Sonderaufgaben übernehmen müssen. Noch ist nicht gesagt, ob Jérôme Boateng tatsächlich mitspielen kann, seine Wadenverhärtung aus der Partie gegen Nordirland wird immer noch behandelt. Ohne Boateng käme der deutschen Abwehr der schnelle Mann für alle Fälle abhanden, die Ersatzleute Benedikt Höwedes und Shkodran Mustafi haben einen anderen Spielstil.

Den Job als schnelle Eingreiftruppe müsste dann wieder Manuel Neuer übernehmen, das Risiko würde er nicht scheuen, selbst wenn er damit die Anbahnung eines Zu-Null-Rekords aufs Spiel setzen würde. Mit solchen Bestmarken kann er sowieso nichts anfangen: "Wir sind keine Rekordjäger, wir versuchen Ergebnis-Fußball zu spielen", sagt Manuel Neuer vor dem ersten K.o.-Spiel.

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