DFB-Team vor der Fußball-EM:Joachim Löw ist zum Realo mutiert

  • Kein Rüdiger, kein Gündogan, kein Reus: Der Bundestrainer muss vor Beginn der EM den Krisenmanager geben.
  • Zum Glück ist Löw mittlerweile ein Meister der Pragmatik.

Von Christof Kneer, Évian-les-Bains

Der Mann, der es gar nicht mag, wenn man ihn "Rasen-Papst" nennt, hatte als einer der wenigen einen guten Blick aufs Geschehen. Als es passierte, stand Rainer Ernst auf jener abgesperrten Seite des Trainingsplatzes, die Richtung Genfer See liegt, dorthin kommt kein Reporter und natürlich auch kein Einwohner aus Évian-les-Bains.

Die Einwohner von Évian-les-Bains werden zwar gerade in jedem zweiten Satz gelobt, gewürdigt und gepriesen, das ist ja immer so, wenn der Deutsche Fußball-Bund sich irgendwo auf der Welt sein Quartier nimmt, aber aus Erfahrung weiß man, dass sich die Einheimischen darauf nicht so viel einbilden sollten. Sie werden die Mannschaft des Deutschen Fußball-Bundes nun mit jedem Tag weniger zu Gesicht bekommen, und irgendwann werden sie sie nur noch für ein Gerücht halten.

Am Dienstagabend hatte der DFB aber offiziell zum Begrüßungstraining geladen, ungefähr 1000 heitere Menschen kamen, aber die entscheidende Szene sahen und hörten sie nicht. Aus der Ferne sahen sie nur, dass ein deutscher Spieler, der sich später als Antonio Rüdiger herausstellte, auf dem Rasen lag, und sie sahen, dass sich viele deutsche Spieler um ihn versammelten und hektische Handbewegungen machten.

Der Landschaftsarchitekt Rainer Ernst, den der DFB seit einigen Turnieren als Rasen-Installateur konsultiert, stand nicht weit vom Unfallort entfernt, er hat gesehen, wie Rüdiger ungünstig wegknickte, Ernst hat sogar einen kleinen Knall gehört. Da ahnte er, was auch die Kollegen mit den hektischen Handbewegungen ahnten: Das könnte es gewesen sein für den armen Kerl. Ein paar Stunden später kam die vorläufige, am nächsten Morgen die endgültige Bestätigung: Kreuzbandriss. Was das bedeutet, weiß jeder Spieler, jeder Trainer und jeder Landschaftsarchitekt: ein halbes Jahr Pause, mindestens.

Der DFB hat eine gewisse Tradition mit sehr ernsten Verletzungen, die sich bei eher unernsten Trainingseinheiten ereignen. Im Juni 2000 rissen beim Stürmer Oliver Bierhoff ein paar Muskelfasern, als die DFB-Elf jenes wegen seiner Absurdität bis heute legendäre Kirmestraining im Heimatort des damaligen DFB-Präsidenten Egidius Braun absolvierte.

Sechs Jahre später zog sich Philipp Lahm bei einem 60-minütigen Testkick gegen einen Verbandsligisten einen Sehnenanriss im Ellbogen zu, er musste operiert werden und fiel für die Vorbereitung jener Veranstaltung aus, die mal als Sommermärchen bekannt war, bevor sie ebenfalls ungünstig wegknickte. Diesmal hat allerdings niemand den Umständen oder gar dem Rasen einen Vorwurf machen können, Rainer Ernst ist später extra noch mal auf sein Grün gelaufen, um die Unglücksstelle auf Spuren zu untersuchen. Er fand: keine Löcher, keine Unebenheiten und auch sonst nichts, was zur Legendenbildung taugen würde.

Es täte ihm "wahnsinnig leid für Antonio Rüdiger", sagte Joachim Löw am Tag darauf in der ersten offiziellen Pressekonferenz auf französischem Boden. Normalerweise muss Löw bei solchen Anlässen immer erst der örtlichen Bevölkerung danken, er muss das Wetter, die Luft, die Bäume sowie im Zweifel den Bürgermeister loben, und das tat der Bundestrainer auch diesmal, aber erst ganz am Ende seines Referats. Es war kein Tag fürs Zeremoniell.

Nicht einmal einen vollständigen Tag hatte Löw in jener Herberge verbracht, die im Idealfall für die nächsten viereinhalb Wochen seine Heimat sein wird, und schon war er als Krisenmanager gefordert. Er musste gleich in der ersten Nacht entscheiden, wen er jetzt als Ersatz in seinen Kader holt, er hat sich dann gegen Sebastian Rudy und für den jungen Leverkusener Jonathan Tah entschieden.

Er habe "eine Eins-zu-eins-Lösung schaffen wollen", erklärte Löw also, er wollte einen Innenverteidiger durch einen Innenverteidiger ersetzen. Löws erster Auftritt in Évian war einerseits nicht spektakulär, aber andererseits irgendwie doch. Im Grunde hat man am Mittwoch noch mal nachträglich begriffen, warum Löws Elf vor zwei Jahren am anderen Ende der Welt Weltmeister geworden ist. Wegen der guten Spieler, ja, und mit ein bisschen Glück, ebenfalls ja - aber halt auch: wegen dieses Trainers, der es geschafft hat, den Jogi in sich auf den rechten Weg zu bringen.

"Wir werden jetzt nicht jammern"

Joachim Löw, gebürtiger Fundi, ist mit den Jahren zu einem Realo geworden, der inzwischen völlig selbstverständlich solche Sätze sagt: "Natürlich hätte ich gerne den Kader zur Verfügung, den ich mir vor ein paar Monaten gewünscht habe, mit Ilkay Gündogan, Marco Reus und Antonio Rüdiger. Das ist aber nicht der Fall, und deshalb werden wir jetzt nicht jammern." Oder, auch schön: "Wir müssen jetzt auch mit der neuen Situation umgehen, wichtig ist nur, dass wir sofort Lösungen finden." Es is', wie's is' - ein Ansatz von fast Beckenbauer'scher Dimension.

Es waren die vergangenen beiden Turniere, die aus Löw jenen Trainer gemacht haben, der er heute ist. Vor vier Jahren, bei der EM in Polen und der Ukraine, hat der Fundamentalist in Löw eine schwere Niederlage erlitten, die etwas verkopfte Aufstellung im Halbfinale gegen Italien entsprang noch der Gedankenwelt eines Trainers, der meinte, über Wasser gehen zu können.

DFB: 1972, 1980, 1996

Alle Endspiele der Fußball-Europameisterschaft

1960 UdSSR - Jugoslawien n.V. 2:1

1964 Spanien - UdSSR 2:1

1968 Italien - Jugoslawien n.V. 1:1 / 2:0

1972 Deutschland - UdSSR 3:0

1976 CSSR - Deutschland i.E. 5:3 (2:2)

1980 Deutschland - Belgien 2:1

1984 Frankreich - Spanien 2:0

1988 Niederlande - UdSSR 2:0

1992 Dänemark - Deutschland 2:0

1996 Deutschland - Tschechien n.G.G. 2:1

2000 Frankreich - Italien n.G.G. 2:1

2004 Griechenland - Portugal 1:0

2008 Spanien - Deutschland 1:0

2012 Spanien - Italien 4:0

Diese Niederlage und vor allem deren kritische Rezension haben Löw getroffen und abgehärtet, zwei Jahre später begegnete die Welt in Brasilien einem Trainer, der die Kraft der Entscheidung vor die Kraft der Ideen setzte. Löw hat die WM 2014 straff durchgecoacht und sich selbst davon überzeugt, dass es ganz praktisch sein kann, auch mal Pragmatiker zu sein.

Nein, er habe keine Wunschelf im Kopf, so was gebe es nicht, hat Löw im Trainingslager in Ascona gesagt; so einen Satz hätte er sich vor ein paar Jahren niemals gestattet. Vor ein paar Jahren hat Löw gerne ideale Welten entworfen, und wenn die ideale Welt manchmal von der Realität widerlegt wurde, war im Zweifel die Realität schuld. Heute versucht Löw, so viel Ideal wie möglich, aber eben auch nur so viel wie nötig in die Realität hinüberzuretten.

Löw hat natürlich weiterhin seinen Plan für die Langstrecke, er weiß, wie seine Mannschaft Fußball spielen soll (ästhetisch, flach, schnell), aber auf der Kurzstrecke ist er mehr denn je bereit, auch mal kurz den Kurs zu ändern. Löw begegnet einem Turnier nun eher im Tag-für-Tag-Modus; der tägliche Jogi wartet, wie sich die Gesundheit von Bastian Schweinsteiger und Mats Hummels entwickelt und passt seine Pläne an; er beobachtet, wie sich Shkodran Mustafi und Benedikt Höwedes im Training machen und entscheidet dann, wer im Auftaktspiel gegen die Ukraine an Hummels' und Rüdigers Stelle als Innenverteidiger an die Seite von Jérôme Boateng rücken wird.

Und er hat am Mittwoch noch mal auf großer Bühne eingeräumt, "dass wir Standardsituationen seit der WM 2014 ein bisschen anders behandeln als früher". Früher gehörten Ecken und Freistöße nicht zu seiner idealen Welt. Heute weiß er, dass er sie braucht, um seiner idealen Welt zum Recht zu verhelfen.

Löw vermittelt den Eindruck, als sei er bereits in Turnierform. Allerdings muss sich jetzt noch das Turnier daran halten.

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