Vor einer Woche haben im Süden Dortmunds ungefähr 75 000 Menschen gleichzeitig den Atem angehalten. Es wird unheimlich still im größten Stadion Deutschlands, wenn Fußballfans plötzlich verstummen. Die Uhr zeigte 17.09 Uhr, als an jenem Samstag gegen Werder Bremen der Dortmunder Marco Reus eine Hereingabe von Pierre-Emerick Aubameyang ins Tor zu grätschen versuchte, den Ball aber verpasste und stattdessen mit dem rechten Schienbein derart gegen den Pfosten knallte, dass er danach liegen blieb.
Reus ist ein Pechvogel. Er hat den WM-Titel 2014 verpasst, weil er sich im letzten Vorbereitungsspiel verletzt hatte, und nun fürchteten alle, er könnte auch Borussia Dortmunds DFB-Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt versäumen. Viele riefen seinen Namen. Akustische Streicheleinheiten. Zwei Minuten später stand Reus wieder auf, half unter anderem mit einem verwandelten Elfmeter, einen 2:3-Rückstand in einen 4:3-Sieg umzudrehen und sagte hinterher: "Das Pokalfinale würde ich notfalls auch mit einem Bein spielen." Jetzt spielt er es aber doch mit beiden.
Weltmeister, Champions-League-Sieger und DFB-Pokal-Gewinner
Viel hat nicht gefehlt, dann wäre Reus bereits Weltmeister, Champions-League-Sieger und DFB-Pokal-Gewinner. Doch bis jetzt hat er das alles knapp verpasst: außer dem WM-Triumph auch vier Titel durch vier nacheinander verlorene Endspiele. Im Champions-League-Finale 2013 unterlag er mit Borussia Dortmund dem FC Bayern in London und von 2014 bis 2016 hat er mit dem BVB in Berlin drei Pokalfinals verloren. In der Bundesliga ist er mit Dortmund außerdem drei Mal Zweiter geworden. Als Reus 2012 nach Dortmund wechselte, hatte der BVB gerade Meisterschaft und Pokal gewonnen - seit Reus da ist, gewann er nichts mehr.
Reus ist der derzeit beste deutsche Fußballer ohne Titel. Er leidet unter einer Art Fluch - aber jetzt bekommt er eine weitere Chance. In seinem fünften Finale binnen fünf Jahren erhält er vier Tage vor seinem 28. Geburtstag eine neue Gelegenheit auf etwas, das über die Karriere hinaus Bestand hat. "Endlich, endlich", sagt Reus, wolle er diese Chance nun nutzen. "Endlich, endlich", könnte auf einem T-Shirt stehen, das er unter dem Trikot trägt und nach dem Abpfiff lüftet.
Mit ganzem Selbstbewusstsein: Marco Reus, hier beim Pokalsieg gegen den FC Bayern, mit Teamkollege Pierre-Emerick Aubameyang.
(Foto: Christian Bruna/EPA)Reus hat in 295 Bundesliga-, Pokal- und Europacup-Spielen für Mönchengladbach und Dortmund 128 Tore geschossen und in 29 Länderspielen neun Treffer. Dass ihm noch nie ein Pokal in die Hände gedrückt wurde, dass er noch nie im Goldregen der Glitterkanonen stand - ist das Pech oder eine Frage der Nerven? In keinem seiner vier Endspiele hat der sonst so torgefährliche Reus aus dem Spiel heraus getroffen. Im Elfmeterschießen des 2015 verlorenen Pokalfinals gegen München hat er seinen Schuss verwandelt, und beim 1:2 im Champions-League-Endspiel 2013 gegen die Bayern wurde er gefoult zu jenem Strafstoß, den dann Ilkay Gündogan verwandelte. In diesem Spiel war Reus richtig gut, aber in den drei Pokalfinals danach blieb er unter seinen Möglichkeiten.
"Ohne Marco werden wir keines unserer Ziele erreichen"
Hinzu kamen in seiner Karriere immer wieder körperliche Probleme. Auch in dieser Saison. Wegen einer Schambeinentzündung, einer Fersenverletzung und eines Muskelfaserrisses (sowie einer Gelb-Rot-Sperre) hat er in dieser Saison 26 der 49 Dortmunder Pflichtspiele verpasst. In diesem Frühjahr ist er trotzdem stark zurückgekommen. Nach seiner zweiten mehrwöchigen Pause feierte er Mitte April sein Comeback und schoss in acht Pflichtspielen sieben Tore. Er half dem BVB ins Pokalfinale einzuziehen und den dritten Platz in der Bundesliga zu sichern.
Männer
Borussia Dortmund - Eintracht Frankfurt
Samstag, 27. Mai, 20 Uhr in Berlin (ARD)
Frauen
VfL Wolfsburg - SC Sand
Samstag, 27. Mai, 16.15 Uhr in Köln (ARD)
"Ohne Marco werden wir keines unserer Ziele erreichen", hatte Thomas Tuchel zuvor gesagt. "Er hat wahnsinnig an Persönlichkeit gewonnen", beschrieb der Trainer seinen Vizekapitän hinterher. Diese Persönlichkeit muss Reus nun auch im Berliner Olympiastadion zeigen. Dann könnte man nach dem Abpfiff in seinem Gesicht Emotionen erkennen - wenn er es denn zeigt. Meistens zieht er in besonders emotionalen Momenten den Kragen seines Trikots bis zum Haaransatz hoch und versteckt sich unter dem Trikot vor dem Millionenpublikum.
Ein Karriereende beim BVB?
Reus schlägt keine Salti wie Sturmpartner Aubameyang, er tritt modisch nie wie ein Paradiesvogel auf und fährt auch keine goldlackierten Rennwagen. Vor zwei Jahren, als Aubameyang sich nach einem Treffer im Derby gegen Schalke eine Batman-Maske aufsetzte, machte Reus den Spaß mit und setzte sich die Maske des Batman-Helfers Robin auf. Der extrovertierte Aubameyang kitzelte aus dem introvertierten Reus stets zusätzliches Adrenalin heraus - umso schmerzlicher wäre der Verlust für Reus, sollte Aubameyang den BVB im Sommer verlassen.
Weil Watzkes Verhältnis zu Trainer Tuchel überdies als irreparabel gilt, muss sich Reus vielleicht auf einen neuen Trainer einstellen. Immerhin: Sein früherer Gladbach-Coach Lucien Favre wäre womöglich ein Favorit auf die Stelle.
Der Vertrag von Reus ist noch zwei Jahre gültig. Er hat aber schon einmal angedeutet, sich ein Karriere-Ende beim BVB vorstellen zu können. Reus hat mit Dortmund, Rot-Weiß Ahlen und Gladbach bloß für drei Klubs gespielt - alle im Westen. "Dortmund ist meine Heimatstadt, hier wohnt meine Familie, hier habe ich meine Freunde - und es gibt ja noch ein Leben nach dem Fußball." Für diese Zeit, für die Erinnerungen, will Reus nun seinen ersten Titel.
Vielleicht bricht sich das Glück danach ja Bahn. Die WM 2018 steht bevor. Marco Reus hat bislang alle Titel versäumt, aber das heißt nicht, dass er sie nicht alle noch gewinnen kann.
