DFB-Pokal:Bis der Arzt kommt

FC St. Pauli - Erzgebirge Aue

Sauer auf seine Mannschaft: St. Paulis Trainer Ewald Lienen.

(Foto: Axel Heimken/dpa)

Der kriselnde Zweitligist FC St. Pauli beschwört vor dem Duell mit Hertha BSC die Historie: Schon einmal hat ihn ein Sieg über die Berliner gerettet.

Von Jörg Marwedel, Hamburg

Im künftigen Museum des FC St. Pauli werden keine Pokale ausgestellt. Die gibt es nicht bei jenem Klub, der Demokratie noch vor den sportlichen Erfolg stellt. Selbst beim letzten Bundesliga-Aufstieg 2010 verpassten die Hamburger die 2008 eingeführte Titeltrophäe für Liga zwei, im Volksmund "Radkappe" genannt; sie wurden nur Zweiter. Aber es gibt Spiele, die sich eingebrannt haben ins St. Pauli-Gedächtnis. Etwa das 2:1 am 6. Februar 2002 gegen den FC Bayern München, das St. Pauli zum T-Shirt-Meister mit der Aufschrift "Weltpokalsiegerbesieger" machte. Oder eben jene grandiose "B-Serie" im DFB-Pokal 2005/2006, als der damalige Drittligist alle mit B beginnenden Gegner aus dem Wege räumte, bis man im Halbfinale am größten B scheiterte, dem FC Bayern.

Auf dem Weg dorthin kam es im Achtelfinale kurz vor Weihnachten 2005 zu jenem 4:3 gegen den Erstligisten Hertha BSC Berlin, nach einem 0:2 und einem erneuten 2:3-Rückstand in der Verlängerung. 19 800 Zuschauer im maroden, alten Millerntor-Stadion feierten die in schlammgetränkten braun-weißen Trikots tanzenden Spieler namens Mazingu-Dinzey, Luz, Lechner oder Palikuca (das waren die Torschützen). Die Pokalerfolge und damit verbundenen Einnahmen leiteten die Genesung des kurz zuvor an der Insolvenz vorbeigeschlitterten Klubs ein. Nun kommt es am Dienstag zur Neuauflage dieser Pokal-Partie.

Trainer Ewald Lienen war wenige Wochen vor dem museumsträchtigen Duell beim Bundesligisten Hannover 96 entlassen worden, inzwischen ist er Coach des FC St. Pauli. Und seine sportliche Lage ist ähnlich heikel wie damals in Hannover. St. Pauli ist in der zweiten Liga Tabellenletzter - steht also auf jenem Platz, auf dem Lienen den Klub im Dezember 2014 übernahm, ehe er ihn in der vorigen Saison auf Rang vier führte. Interessant wird sein, ob die Klubleitung unter Präsident Oke Göttlich durchhält mit ihrer in der Branche eher untypischen Haltung, dem Trainer nicht die Schuld zu geben. Auch nach dem 0:3 in Sandhausen, der vierten Niederlage nacheinander, verkündete Sportchef Thomas Meggle: "Wir lassen uns nicht von außen beeinflussen und gehen weiter den St.-Pauli-Weg." Das derzeitige Problem liege nicht beim Trainer. Auch die Fanklubs stehen weiter hinter dem Übungsleiter.

Es schien ja auch alles zu passen. Mit seiner Gesinnung passte Lienen zu St. Pauli wie Gregor Gysi zur reformierten Links-Partei. Und weil er so glücklich war über diese späte fußballerische Ehe, hat sogar seine Frau Rosa, eine diplomierte Sozialpädagogin, ihre Praxis in Mönchengladbach aufgegeben und ist mit nach Hamburg gezogen. Lienen hat sich aber seine Gedanken über die Grenzen der Solidarität gemacht: "Wenn der Verein das Trainerteam als Problem ansehen würde, müsste er reagieren, um Schaden abzuwenden", sagte er. Aber er sei natürlich "dankbar, dass der Klub versucht, mit uns gemeinsam aus dieser Misere herauszukommen".

Der Absturz ist mit Lienens Arbeit nur bedingt zu erklären

Weshalb es zu dem unerwarteten Absturz kam, ist mit Lienens Fähigkeiten als Fußballlehrer nur bedingt zu erklären. Im Sommer wurden die Stammspieler Marc Rzatkowski, Lennart Thy, Enis Alushi und Sebastian Meier abgeworben; Meggle und Lienen schafften es nicht, gleichwertigen Ersatz zu besorgen. Eine Verletzten-Misere kam hinzu. Und in der Abwehr, die in der vergangenen Saison 17 Mal ohne Gegentor blieb, behielt allein Keeper Robin Himmelmann seine Form. So lassen sich selbst bei St. Pauli Gerüchte nicht vermeiden über eine neue Bank-Besetzung. Zum Beispiel mit der Spekulation, Geschäftsführer Andreas Rettig habe einen besonders guten Draht zum derzeit arbeitslosen Jos Luhukay. Mit dem FC Augsburg stiegen beide 2011 in die Bundesliga auf.

Vorm Pokalspiel gegen Hertha hat der frustrierte Lienen in einer emotionalen Rede erstmals öffentlich seine Wut über das Team abgelassen. "Wir müssen nicht über Gewinnen oder Verlieren diskutieren. Das Thema dieses Spiels ist, dass wir einen Schritt in die richtige Richtung machen", schnaubte er: "So können wir nicht weitermachen. Wir müssen kämpfen, bis der Arzt kommt." In Sandhausen hätte jedes Gegentor verhindert werden können, "wenn jeder Spieler den Willen gehabt hätte, den Fehler des Mitspielers auszubügeln. Aber die schauen zu und hoffen, dass der andere das regelt", monierte Lienen.

Es ist schwer, sich vor diesem Hintergrund eine Wiederholung der damaligen Pokal-Überraschung vorzustellen - zumal St. Pauli aus Verletzungs- und Krankheitsgründen auf wichtige Profis wie Bouhaddouz, Kalla, Ziereis und Hegenstad verzichten muss. Aber manchmal entsteht ja in 90 oder 120 Pokalminuten ein neuer Held. Wie damals Robert Palikuca, der in der 109. Minute mit einem Kopfball das 4:3 erzielte.

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