DFB-Gegner Algerien bei der WM:Mehr als nur ein Achtelfinale

DFB-Gegner Algerien bei der WM: Im Jubelrausch: Algeriens Sofiane Feghouli.

Im Jubelrausch: Algeriens Sofiane Feghouli.

(Foto: AP)

Den deutsch-österreichischen Nicht-Angriffspakt von Gijón haben die Algerier nicht vergessen. Jetzt sehnen sie das entscheidende Duell mit Joachim Löws Männern herbei. Die Geschichte schuldet ihnen eine Revanche - spielerisch glaubt der Außenseiter ohnehin an seine Chance.

Von Claudio Catuogno, Rio de Janeiro

Mit dem Zug könnte Joachim Löw nicht nach Hause fahren von Porto Alegre im Bundesstaat Rio Grande do Sul nach Freiburg im Breisgau. Allenfalls mit dem Bus bis an den Nordostzipfel Brasiliens, das dürfte in ungefähr 70 Stunden zu machen sein. Bis Lissabon müsste der Bundestrainer dann aber mindestens fliegen, erst danach böte sich die Bahn an. Umsteigen müsste Löw lediglich in Porto (Campanha), Vigo-Guixar, Barcelona Sants, Paris (Gare de Lyon), Mulhouse Ville und Müllheim (Baden), dann wäre es auch schon geschafft. Für die letzten Meter könnte Löw ein Taxi nehmen.

Aber so weit wird es nicht kommen, Joachim Löw ist nicht Jupp Derwall. Und die Nationalelf von heute hat zwar in ihrem Quartier im Campo Bahia Lampenschirme mit Schwarz-Weiß-Bildern aus der deutschen Fußballgeschichte bedrucken lassen. Mit den alten Zeiten hat sie trotzdem nicht mehr viel gemein. Man darf zum Beispiel davon ausgehen, dass Lahm, Mertesacker und Co. weniger Schnaps trinken als seinerzeit Paul Breitner, Horst Hrubesch, Karl-Heinz Rummenigge und die anderen, die bei der WM 1982 in Spanien erst ein Spiel verloren, 1:2 gegen Algerien. Und ein paar Tage später auch ihr Gesicht.

Damals bedeutete WM-Vorbereitung grob gesagt, dass man sich am Schluchsee ("Schlucksee") zum Kartenspielen traf und soff. Heute ist (abgesehen vom Kartenspielen) alles anders. Und deshalb würde auch so ein Satz wie seinerzeit dem Bundestrainer Derwall dem Bundestrainer Löw heute niemals über die Lippen gehen, wenn die Deutschen nun am Montag in Porto Alegre die Algerier wiedertreffen, 32 Jahre danach: "Wenn wir gegen die verlieren, setze ich mich in den nächsten Zug und fahre heim." Übrigens nicht Jupp Derwalls einziges uneingelöstes Versprechen.

Gijón 1982. Die alten Geschichten. Sie waren sofort wieder präsent, nachdem die algerische Nationalelf am Donnerstagabend ins Achtelfinale eingezogen war durch ein 1:1 (0:1) in Curitiba gegen Russland. Gijón, das war ja nicht nur aus deutscher Sicht innerhalb weniger Tage der Schauplatz einer der bemerkenswertesten Niederlagen (besagtes 1:2 gegen Algerien) und eines der schaurigsten Spiele überhaupt (ein 1:0 gegen Österreich, das beiden zum Weiterkommen reichte).

Bei den Algeriern sitzt der Stachel noch tiefer, ihre goldene Generation wurde 1982 aus dem Turnier befördert durch den Nichtangriffspakt von Deutschen und Österreichern. Sie wurden bestohlen. Und mussten sich danach noch Sprüche anhören wie etwa jenen des österreichischen Delegationsleiters Hans Tschak, der von Skandal oder Schande nichts wissen wollte: "Wenn jetzt 10 000 Wüstensöhne einen Skandal entfachen wollen", grantelte Tachak, "zeigt das doch nur, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die Klappe aufreißen zu können."

Die französische Zeitung Libération schrieb damals: "Wenn die Algerier Rassismus rufen, haben sie nicht Unrecht."

"Wir haben nichts vergessen"

Das schwingt nun alles wieder mit, und natürlich weiß Vahid Halilhodzic die alten Geschichten auch zu nutzen. Draußen jubelten noch die Anhänger der Fennecs, der Wüstenfüchse, da sagte drinnen schon der Trainer der Algerier: "Wir haben nichts vergessen, nicht Gijón, nicht Deutschland. Wir reden die ganze Zeit von diesem Match. Es ist lange her, aber jeder Algerier weiß noch, was damals passiert ist."

Halilhodzic ist Bosnier, und noch vor wenigen Tagen, nach dem 1:2 der Fennecs zum Auftakt gegen Belgien, hätten ihn viele Algerier am liebsten zu Fuß nach Hause geschickt wegen seiner ängstlichen Defensivtaktik. Aber jetzt schweißt nicht nur dieser historische Erfolg Land und Trainer wieder zusammen: der erste Einzug in die K.o.-Runde einer Weltmeisterschaft. Sondern auch der kommende Gegner. "Algerien - Deutschland, wie alles sich wiederholt", schwärmte zu Hause in Algier La Gazette du Fennec. Und wo man schon im nationalen Taumel ist, gleich noch ein Schlachtruf hinterher, der so international ist, dass ihn am Montag in Porto Alegre auch des Arabischen oder Französischen unkundige Zuschauer rufen können: "One, two, three, viva l'Algérie!"

Die Algerier, daran ließen sie keinen Zweifel am Donnerstag in Curitiba, sind jetzt nicht etwa schon zufrieden. "Wir haben heute gegen Russland ein tolles Spiel gezeigt", sagte Halilhodzic, "aber wir können noch viel besser spielen. Und warum sollten wir das nicht gegen Deutschland zeigen?" Wo doch dann so viele Emotionen mit im Spiel sind. Man muss jetzt nur allen erzählen, dass die Geschichte ihnen eine Revanche schuldet, und Vahid Halilhodzic hat damit längst begonnen: "Gegen Deutschland werden wir die Kleinen gegen die Großen sein, die Brasilianer werden auf unserer Seite sein. Und wir werden alles tun, um sie nicht zu enttäuschen."

Für Islam Slimani, 26, der mit seinem Kopfball in der 60. Minute die Führung des Russen Alexander Kokorin (6.) ausglich, ist am Donnerstag schlicht "ein Traum wahrgeworden". Und dabei handelt es sich längst nicht mehr nur um einen algerischen Traum. "Es gibt so viel Liebe für das Team", hat auch Coach Halilhodzic bemerkt, "wir haben in den letzten Tagen so viele Sympathie-Botschaften aus der ganzen arabischen Welt bekommen."

Allerdings kommen aus der arabischen Welt auch Fragen nach dem Ramadan, der an diesem Samstag beginnt. Zum ersten Mal seit 28 Jahren fällt der muslimische Fastenmonat in die WM-Zeit, viele Spieler und Trainer haben sich in Brasilien schon dazu geäußert. Fasten, nicht fasten, ein bisschen fasten, für viele ist das eine Gewissensfrage. Aber als die Frage in Curitiba gestellt wurde, blaffte Halilhodzic: "Wie oft denn noch? Wir reden nicht über Religion und Politik, ist das klar? Es geht hier um Sport! Ende!" Dann stapfte er davon.

Sport? Deutschland - Algerien ist natürlich längst mehr als das.

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