DFB-Elf vor Test gegen Israel:Die mysteriöse Wade

Vor dem letzten EM-Test der DFB-Elf sorgt Bastian Schweinsteigers Blessur für Gerüchte. Bundestrainer Joachim Löw aber hat andere Sorgen: Der wunde Punkt im großen Ganzen der deutschen Nationalelf ist die Außenverteidigung.

Philipp Selldorf, Tourrettes

Beim letzten Training vor der Abreise nach Deutschland öffnete Joachim Löw die Tür für die Touristen. Bis zum Mittwoch hatte die Nationalmannschaft in Südfrankreich hinter einem weitgehend blickdichten grünen Zaun trainiert, das hielt die Leute aber nicht davon ab, stundenlang in Scharen auf der Zufahrt zu stehen und ihre Handys in die Luft zu recken, um Souvenir- fotos zu schießen.

Germany - France Training Camp - Day 11

Nicht ganz die Wade der Nation: Bastian Schweinsteiger und Fitnesstrainer Darcey Norman arbeiten an der lädierten Wade des Nationalspielers.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Ein Familienvater (im Nationaltrikot) stemmte sogar wie einst der große Atlas zwei gar nicht mehr so kleine Kinder (in Nationaltrikots) auf seinen Schultern, damit sie etwas sehen konnten. Schließlich nahm ihm der Bundestrainer die Last, alle durften rein.

Auf dem makellos gepflegten Rasen konnten sie dem Team bei einer anspruchsvollen Angriffsübung zuschauen, die den gesamten Kader einbezog; es ging um das Lieblingsthema des Bundestrainers: Von hinten nach vorn im höchsten Tempo aufs Tor zu, Bummeleien wurden vom Chefchoreographen Löw sofort energisch beanstandet.

Mario Gomez, Toni Kroos und Thomas Müller machten sich derweil einen gemeinen Spaß daraus, Holger Badstuber zu ärgern, was ihnen so gut gelang, dass dieser unentwegt vor sich hin schimpfte und folgerichtig einen Fehlpass nach dem anderen spielte.

Vorenthalten blieb den Gästen hingegen die Fußballkunst von Bastian Schweinsteiger. Der Münchner saß in einem weißen Zelt neben dem Trainingsplatz auf einem Trimmrad und strampelte angestrengt. Damit er dabei nicht nachließ, leisteten ihm die amerikanischen Konditionstrainer Marc Verstegen und Darcy Norman ebenfalls strampelnd Gesellschaft.

Die zwei sind ihm eine vertraute Eskorte. Am Dienstag hatten sie den 27-Jährigen zum Dauerlauf fürsorglich in ihre Mitte genommen wie zwei Leibwächter, und unter dem Eindruck dieser Bilder häufen sich allmählich die bangen Fragen nach Schweinsteigers Befinden und der Ursache seines Aussetzens.

Raum für Interpretation

Die Antworten aus dem DFB-Lager lassen Raum für Interpretation. Löw erklärte das Problem mit einem Bluterguss in der linken Wade, resultierend aus dem Champions-League-Finale ("er hat 115 Minuten mit einer kleinen Verletzung gespielt"), er will deswegen aber keinen Grund zur Beunruhigung sehen. "Bastian wird auf die nächste Woche vorbereitet", sagte er.

Teammanager Oliver Bierhoff wusste anderntags zum Befund nichts Konkretes beizutragen, vertrat aber die Auffassung, die Blessur habe nicht die Qualität, um den bereits hier und da verliehenen Titel "Wade der Nation" zu rechtfertigen. Bierhoff berief sich auf die einzig wahre "Wade der Nation", die in früherer Zeit wiederholt das Land besorgte, weil das prekäre Körperteil zu Michael Ballack gehörte. Dessen mysteriöse Wade hat in der Geschichte des DFB-Teams eine ähnliche Geltung wie der zumachende Oberschenkelmuskel von Lothar Matthäus.

Bei Ballack war es eine Verletzung, die häufiger auftrat", sagte Bierhoff und beschwichtigte, bei Schweinsteiger sei es eine einmalige Sache. Dass der Mittelfeldchef am Donnerstag beim Testspiel in Leipzig gegen Israel (vermutlich) nicht mitwirken kann, tat er als nebensächlich ab.

Dann streute jedoch Philipp Lahm die verwirrende Mitteilung ein, der Fall sei "ernst". "Bastian würde sehr gern mittrainieren", fügte er mitfühlend hinzu, prompt wurden wieder Zweifel laut, ob es wohl reichen wird bis zum Turnierauftakt am 9. Juni in Lemberg gegen Portugal. "Natürlich würde sein Ausfall schmerzen", sagte Lahm, der gegen Israel auf seiner angestammten Position auf der linken Abwehrseite spielen wird, was aber nicht bedeutet, dass er nicht demnächst auf seiner angestammten Position auf der rechten Abwehrseite spielen könnte.

Dort wird Löw diesmal Jérôme Boateng aufbieten. Über die endgültige Postenvergabe an Lahm will der Coach in der nächsten Woche entscheiden, auch ein Springerjob scheint möglich zu sein. Lahm fühlt sich für alles gewappnet: "Ich weiß, dass ich auf beiden Seiten absolutes Top-Niveau habe." Und das ist nicht mal Angeberei.

Die Wahrheit ist wohl, dass die einzig unersetzlichen Waden der Nation die von Philipp Lahm sind, weil die Frage der Außenverteidigung - der wunde Punkt im großen Ganzen - den Bundestrainer deutlich mehr beschäftigt als Schweinsteigers eventuelles Fehlen im ersten Turnierspiel. Im luxuriös besetzten Mittelfeldkader stünde Toni Kroos zur Übernahme bereit; Lars Bender wäre im defensiven Zentrum eine weniger glamouröse, aber ebenfalls vertrauenswürdige Variante, "auch Mario Götze kann selbstverständlich auf der Sechs spielen", betonte Löw; selbst wenn der Auftritt des Dortmunders in Basel diese Expertenmeinung keineswegs bestätigt hat.

Schon deswegen gibt es keinen Grund, im Falle Schweinsteiger die geheimen Künste von Teamarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt zu beanspruchen wie damals vor dem EM-Finale 2008 und vor dem Start der WM 2006, als Ballacks heikle Wade streikte.

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