DFB-Elf:Löw kann sich auf seine Südafrikaner verlassen

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Thomas Müller (l.) führte die DFB-Elf als Kapitän aufs Feld.

(Foto: AFP)
  • Der 4:1-Erfolg gegen Italien hat gezeigt, dass sich Joachim Löw auf seine Führungsspieler verlassen kann.
  • Die Achse der Nationalmannschaft besteht aus Spielern wie Kroos, Müller, Neuer, Özil, Khedira und Boateng, die bei der WM 2010 in Südafrika für Furore sorgten.
  • Ob diese auch bei der EM in Frankreich ohne die bewährten Moderatoren Per Mertesacker, Miroslav Klose und Philipp Lahm funktionieren wird, ist allerdings offen.

Von Christof Kneer

Der Ball war nicht leicht zu nehmen, das stimmt, aber ein wenig mehr Zerknirschtheit hätte man damals schon erwartet. Alleine die Wucht der Fakten hätte ja ausgereicht, um die Öffentlichkeit für ein paar Wochen zu meiden. WM-Halbfinale 2010, 67. Minute, Spielstand 0:0, große Chance für Deutschland: kein Tor. 73. Minute: Ecke für Spanien, Kopfball, Tor - 1:0. Kurze Zeit später war Deutschland ausgeschieden und durfte im Spiel um Platz drei später noch Jörg Butt, Dennis Aogo und sogar Stefan Kießling zum Einsatz bringen. Und Spanien? Wurde Weltmeister.

Man wird nicht behaupten können, dass das Toni Kroos damals alles wurscht gewesen ist, aber ein paar verstörte Zuhörer hat er schon zurück gelassen in der Mixed Zone des Moses-Mabhida-Stadions im südafrikanischen Durban. Er könne es jetzt auch nicht mehr ändern, sagte Kroos trocken, als er auf sein möglicherweise historisches Versäumnis angesprochen wurde.

"Ich konnte da nichts anders machen"

Aber Herr Kroos, vielleicht wäre Deutschland Weltmeister geworden, wenn Ihr Schuss reingegangen wäre! Och, meinte Herr Kroos, klar sei das "eine große Chance" gewesen, aber der Ball sei "noch mal aufgetitscht, deshalb konnte ich keinen Druck hinter den Ball bringen". Ja gut, und dann habe der Casillas den Ball halt gehalten, "ich konnte da nichts anders machen".

Toni Kroos ist wahrscheinlich kein Mensch, um den man sich Sorgen machen muss. Er neigt eher nicht zur Hysterie, und den gesunden Nachtschlaf lässt er sich von so einer dahergelaufenen Torchance auch nicht nehmen. Als einst das heiße Temperament verteilt wurde, kam Toni Kroos erst relativ spät dazu, sich in der Schlange anzustellen, er stand ja so lange drüben in der anderen Schlange, in der es Ballgefühl und Souveränität abzuholen gab.

Aber wahrscheinlich hat Kroos in der Nacht von Durban halt schon gespürt, dass er schon noch ein paar weitere Male aussichtsreich zum Schuss kommen würde in seinem Fußballerleben. So wie - zum Beispiel - vorigen Samstag, mit links gegen England. Oder wie am Dienstag, mit rechts gegen Italien.

Es wäre etwas langweilig zu behaupten, dass Toni Kroos, 26, ein gutes Spiel gemacht hat beim 4:1 gegen Italien, dem letzten Testländerspiel vor der offiziellen EM-Vorbereitung. Gute Spiele sind bei Kroos keine Nachricht mehr. Was Kroos ins Zentrum dieses sehr unterhaltsamen Abends stellte, war seine Vorgeschichte: Kroos kommt von weit her, er hat einen langen Anlauf genommen.

Es war diese Mannschaft, die der Rest der Welt kaum begreifen konnte

Er war einer dieser hochbegabten jungen Deutschen, die damals in Südafrika die WM 2010 gerockt haben. Es war diese Mannschaft, die der Rest der Welt kaum glauben konnte: Waren das wirklich die Deutschen, die so ausgelassen Fußball spielten und dabei nicht nur Müller, sondern auch Özil, Khedira oder Boateng hießen? Diese junge Elf hat viel aushalten müssen damals, es wurde eine Menge in sie hineingelesen, sie sollte für Integration stehen, für den neuen Deutschen und ganz nebenbei auch noch für die Sehnsucht nach einem schönen, großen Titel.

Kroos, Müller, Neuer, Özil, Khedira, Boateng: Sie waren damals nur ein Versprechen. Vier Jahre später haben sie es in Brasilien tatsächlich eingelöst, und sie sind jetzt auch der Grund, warum der anspruchsvolle Trainer Löw die flatterhafte Qualifikationsrunde zur anstehenden EM mit einiger Milde über sich ergehen ließ. Er hat gelernt: Wenn es ernst wird, kann er seinen Südafrikanern vertrauen. Zusammen mit dem etwas später hinzugestoßenen Mats Hummels bilden die Sechs von damals eine autoritäre Gruppe, die die Dinge regeln kann.

Nach dem England-Spiel hat Löw die richtigen Reize gesetzt

In Abwesenheit der verletzten bzw. angeschlagenen Boateng, Neuer und Khedira waren es nun auch Kroos, Müller, Özil und Hummels, die nach Thomas Müllers etwas lässigem Spruch mit dem "Testspielmodus" den Widerstand organisierten. Das Team habe sich durch das 2:3 gegen England "selbst unter Druck gesetzt", hatte Assistent Thomas Schneider vor dem Spiel gegen Italien gesagt, und es war dann sehr klar zu sehen, auf welche Weise das Team diesen Druck bewältigte.

24. Minute: Özil spielt raus auf den rechten Flügel, Müller zieht den Ball flach nach innen, Kroos trifft zum 1:0. 45. Minute: Müller spielt eine No-look-Flanke in die Mitte und findet dort Götze, der zum 2:0 trifft. 75. Minute: Kroos' langer Ball landet präzise bei Rudy, der gefoult wird. Den Elfmeter verwandelt Özil - 4:0.

Joachim Löw hat die richtigen Reize gesetzt nach dem England-Spiel, aber er tut das auch in dem Bewusstsein, dass er genügend Profis hat, die mit diesen Reizen umgehen können. Löw hat die Sinne der Spieler geschärft, indem er ihnen ein paar Denksportaufgaben mitgegeben hat; so ließ er eine Dreier-Abwehrkette bilden, deren Aufgabe auch darin bestand, einer spektakulär offensiv aufgestellten Doppel-Sechs (Kroos, Özil) den Rücken zu stärken.

Löw weiß ja, dass die Burschen das können, wenn es sein muss

"Wenn ich so was im Testspiel nicht probiere", sagte Löw, "wann dann?" Löw hat dem Risikomanagement seiner führenden Kräfte vertraut, er hat früh "gespürt, dass die Mannschaft heute in der Lage ist, 90 Minuten die Konzentration hoch zu halten". Löw weiß ja, dass die Burschen das können, wenn es sein muss. Es muss halt nur nicht immer sein.

Es ist für jeden Trainer lebenswichtig, dass er über eine Achse des Guten verfügt, die das Spiel trägt. Löws Südafrikaner sind jetzt im sogenannten besten Fußballalter, sie sind gemeinsam gewachsen, sie haben gemeinsam ihre identitätsstiftenden Siege (WM 2014) und Niederlagen (EM 2012) erlitten, sie haben gemeinsam die sieben Weltmeere bereist und sich dabei zu führenden Vertretern der Weltmarken Bayern München, Real Madrid, Juventus Turin oder FC Arsenal entwickelt.

Und als solche nehmen sie sich inzwischen auch das Recht heraus, sich um die Teamhygiene zu kümmern. Thomas Müller etwa, erkennbar angestachelt vom vorübergehend verliehenen Kapitänspatent, hat den jungen Torwart ter Stegen für alle sichtbar wegen seines riskanten Spiels verwarnt, und den jungen Torschützen Mario Götze hat er nach dessen Treffer zum 2:0 demonstrativ liebevoll abgewatscht.

Noch ist allerdings offen, wie gut diese Achse in der Hitze eines Turniers funktionieren wird, es muss sich erst noch zeigen, ob die Achse die hoch dynamischen innerbetrieblichen Turnierprozesse auch ohne die bewährten Moderatoren Per Mertesacker, Miroslav Klose und - vor allem - Philipp Lahm bewältigen wird. Und ebenfalls offen ist, ob Bastian Schweinsteiger noch mit moderieren darf; sportlich zählt der Kapitän nicht mehr zwingend zur Achse, aber sollte er es noch mal zum EM-Turnier schaffen, dann wird die Achse zumindest unter seiner Schirmherrschaft stehen.

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