DFB-Elf in der EM-Qualifikation:Sturmfreie Bude

  • Verprasst, verschleudert, verschlampt: Obwohl die deutschen Weltmeister mehr als fahrlässig mit ihren Torchancen umgehen, qualifizieren sie sich als Gruppensieger für die EM 2016.
  • Allerdings ist die hierarchische Struktur dieser Elf noch nicht wieder turniertauglich.
  • Zu den Ergebnissen der EM-Qualifikation geht es hier.

Von Christof Kneer, Leipzig

Seit mehr als 40 Jahren gibt es das "Tor des Monats", es ist eine verlässliche Veranstaltung mit klaren Regeln. Zur Wahl stehen fünf Tore, und am Ende gewinnt meistens der Seitfallzieher.

Nach allem, was man weiß, mögen die Zuschauer diesen Wettbewerb immer noch, aber womöglich haben ein paar Visionäre bereits bemerkt, dass sich allmählich ein neues Format aufdrängt. Der neue Wettbewerb (Arbeitstitel, "die Großchance des Monats") hätte in den ersten Saison- wochen wohl ein wenig darunter gelitten, dass fast ausschließlich Spieler des VfB Stuttgart vorgekommen wären, aber inzwischen steht fest, dass dieser Wett- bewerb auch in der bundesligafreien Zeit eine Heimat hätte. Für die Oktober-Aus- gabe der "Großchance des Monats" bräuchte man nur Marco Reus.

Als spiele er beim VfB Stuttgart

"Wir können heute eigentlich das gleiche Lied singen wie vor drei Tagen in Dublin", sagte Bundestrainer Joachim Löw nach dem seltsamen 2:1 gegen Georgien, das dem Weltmeister aus Deutschland die EM-Qualifikation und am Ende auch den standesgemäßen Gruppensieg sicherte. Die DFB-Elf hat sich zurzeit auf Spiele spezialisiert, die sich, je nach Geschmack, in unterschiedliche Richtungen interpretieren lassen. Wer möchte, kann die feinen und sehr feinen Füße dieser Mannschaft addieren und dabei auf eine Zahl kommen, für die man mehrere Hände braucht (zwei Füße von Özil, zwei Füße von Kroos, zwei Füße von Gündogan, zwei Füße von Reus, zwei Füße von Schweinsteiger, zwei Füße von Götze, zwei Füße von Bellarabi, anderthalb Füße von Neuer, etc.). Andererseits würde man weitere Zusatzhände aktivieren müssen, um all die Torchancen durchzunummerieren, die von diesen Füßen verprasst, verschleudert und verschlampert werden. Reus ist dreimal in der ersten halben Stunde am gegnerischen Torwart gescheitert, obwohl der nur zwei Hände besitzt, und zweimal hat er den Keeper gar nicht gebraucht, um seinen Sieg bei der "Großchance des Monats" klar zu machen. Einmal hat er den Ball mit einer interessanten Fußstellung am sogenannten langen Eck vorbeigeschoben, einmal hat er freistehend drüber geballert, als spiele er in Wahrheit beim VfB Stuttgart.

Man kann diese Elf also beruhigt zur EM fahren lassen, einerseits, weil man weiß, dass diese Füße immer einen Weg finden, um hinter die Verteidigungslinien des Gegners zu kommen. Und man darf sich andererseits Sorgen machen, weil selbst bei einer aus 24 Teams bestehenden EM die Gegner nicht schwächer sein werden als Irland und Georgien, gegen die der Weltmeister nur zwei Tore zustande brachte; eines per Elfmeter, erzielt durch den Schrägfuß Thomas Müller; das andere durch den eingewechselten Max Kruse, den Löw als Kaderergänzung eher so ganz okay findet.

"Bisher haben wir in der Qualifikation sechs Großchancen pro Spiel gebraucht, nach dem heutigen Abend sind es wahrscheinlich sieben oder acht", sagte Löw, der selbst nicht recht wusste, ob er dem Doppelspieltag in Dublin und Leipzig nun mit mildem Amüsement oder mit aufrichtiger Besorgnis begegnen sollte. Auf die reflexhafte Debatte, die das Land schon wieder führt, wird er sich jedenfalls nicht einlassen, er wird das Spiel der deutschen Füße nicht auf einen klassischen Mittelstürmer zuschneiden, den er sowieso nicht hat. Löw wird sich den Problemzonen seiner Elf nicht von der personellen, sondern eher von der strategischen Seite nähern, er weiß ja, dass er nicht wie der FC Bayern mal eben den Technischen Direktor Michael Reschke in ein Flugzeug setzen kann, um ihm ein paar Flügelspieler wie Douglas Costa oder Kingsley Coman aufzutreiben.

Löw kennt das Luxusproblem seines Kaders, er weiß, dass dessen große Stärke auch mal dessen große Schwäche sein kann. Auf den zentralen und halb-zentralen Mittelfeldpositionen hat er mehr herausragende Spieler als in eine Elf passen; gleichzeitig hat er andere Positionen, die weniger herausragend besetzt sind, sodass Löw mitunter dazu neigt, seine Künstler auch über die anderen Positionen zu verteilen. So können Aufstellungen wie in Irland oder gegen Georgien herauskommen, mit zu vielen ähnlichen Spielern, die im Zentrum wunderbare Kurzpässe austauschen. Auf den Flügeln bleiben dann aber die traurigen Außenverteidiger zurück, die oft nicht mal einen Doppelpasspartner finden, weil der potenzielle Adressat zwecks Kurzpassaustausch gerade wieder in die Mitte abgebogen ist.

"Noch viel Arbeit, um wieder aufs WM-Niveau zu kommen"

"Uns fehlt gegen solche Gegner manchmal der Durchbruch über außen", hat Löw nach dem mühseligen Sieg gesagt, aber er wollte seinen Außenverteidigern ausdrücklich "keinen Vorwurf" machen. Der Dortmunder Matthias Ginter und der Kölner Jonas Hector sind in ihren Vereinen anders sozialisiert, von ihnen kann keiner erwarten, dass sie einen Zug ins Spiel bringen, der diese Elf auch mal von ihrem Tricks-und-Schnicks-Zwang befreit.

Man habe "noch viel Arbeit, um wieder aufs WM-Niveau zu kommen", sagte Löw, er weiß, dass er seine gefällig kreiselnde Elf bis zur EM wieder scharf stellen muss. Er vertraut dabei wie schon seit mehreren Jahrzehnten der unmittelbaren Turniervorbereitung, "die uns immer gut getan hat", wie er sagt, und auch der Mittelfeldspieler Toni Kroos geht davon aus, "dass wir dann wieder wie bei der WM den absoluten Willen zeigen werden". In der EM-Qualifikation war der Wille demnach nur ein bisschen absolut, die Spannung sei "unbewusst eine andere", räumte Kroos ein.

Eigenverantwortung noch nicht sehr ausgeprägt

Dieses heiter vorgetragene Geständnis muss Löw womöglich doch etwas Sorge bereiten. Nach den Rücktritten von Miroslav Klose, Per Mertesacker und vor allem von Philipp Lahm ist die Eigenverantwortung im Team noch nicht sehr ausgeprägt; gegen Irland und Georgien waren ja auch noch die Erziehungsberechtigten Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira abwesend, und so haben die Trickser und Schnickser ihre sturmfreie Bude genutzt, um halt ein bisschen zu tricksen und zu schnicksen. Rein spielerisch hat sich die Elf von Schweinsteiger und Khedira bereits emanzipiert, aber die Panikanfälle nach dem 1:1 haben deutlich gemacht, dass die Autoritätsstruktur dieser Elf ohne die alten Chefs noch nicht turniertauglich ist. Manuel Neuer steht zu weit hinten; Jérôme Boateng ist präsent, aber manchmal noch etwas zu wild entschlossen; Mats Hummels hat mit seiner eigenen Leistung genug zu tun; Toni Kroos wirkt mitunter freundlich desinteressiert; Thomas Müller ist ein Unikum. Gegen Georgien war nicht zu über- sehen, dass der personell veränderte Weltmeister in seiner aktuellen Entwicklungsphase noch Hilfe zur Selbsthilfe benötigt. Die Elf braucht gerade mehr denn je einen Trainer, der von außen führt. In Leipzig hat Löw zu sehr den Füßen auf dem Feld vertraut, er hat von außen wenig Impulse gesendet. So hätte er den als zentrale Spitze bemitleidenswerten Andre Schürrle zum Wohle aller Beteiligten früher abberufen können, aber ein Weltmeistertrainer steht offenbar unter dem Schutz des Fußballgottes. Die Geschichte des Spiels war ja nicht das unglückliche Händchen mit dem fehlbesetzten Schürrle. Sondern das glückliche Händchen mit Max Kruse, dem eingewechselten Siegtorschützen.

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