DFB-Elf bei der Fußball-EM:Mit stotterndem Motor ins Turnier geknattert

Lesezeit: 3 min

  • Die deutsche Nationalelf besiegt die Ukraine zum Start der Europameisterschaft mit 2:0.
  • Hinten offenbart das Team einige Schwächen, die Manuel Neuer ausbügelt.
  • Vorne treffen Mustafi und Schweinsteiger.

Von Claudio Catuogno, Lille

Hatte es eigentlich irgendwelche kontroversen Themen gegeben in der Vorbereitung der deutschen Nationalelf auf diese EM? Debatten? Sorgen? Aufregung? Fehlanzeige - mit der Ruhe eines Yoga-Meisters hatte der Bundestrainer Joachim Löw seine 23 Männer durch die beiden Trainingslager in Ascona und Évian gesteuert.

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Und nun ist es am Sonntagabend also losgegangen für die Deutschen, in Lille gegen die Ukraine - und ab jetzt darf hitzig diskutiert werden im Fußballland. 2:0 (1:0) hat "La Mannschaft" ihre Auftaktpartie gewonnen dank der Tore von Shkodran Mustafi (19.) und dem spät eingewechselten Bastian Schweinsteiger (90.). Aber was bitte war da zeitweise in der Abwehr los? Die Anreise aus den Bergen - das darf man in diesen Zeiten dazusagen - hatte gut geklappt. Trotz Pilotenstreiks.

Manuel Neuer durfte vom fehlenden Schweinsteiger die Kapitänsbinde übernehmen

Dass die Uefa die beteiligten Teams irgendwie auf die Bühne bekommen wird, das war ja in etwa so überraschend wie die Startelf, der Löw sein Vertrauen schenkte. Auch hier: keine Nachricht mit besonderem Neuigkeitswert. Mustafi besetzte nun jene Planstelle in der Innenverteidigung, die Antonio Rüdiger eigentlich für Mats Hummels freihalten sollte, ehe Rüdiger sich in Évian das Kreuzband riss. Auch, dass Julian Draxler den linken Flügel würde besetzen dürfen, hatte sich angedeutet. Dass Manuel Neuer die Kapitänsbinde des noch unpässlichen Schweinsteiger über den Arm streifen durfte, brachte an den Wettschaltern auch nur mäßige Quoten ein.

Und die unter der Rubrik "Breaking News" verbreitete Story eines Guckloch-Spions, der Mesut Özil bei einer Trainingseinheit hinter Zäunen nur in der B-Elf entdeckt haben wollte, hatte der Bundestrainer bereits vorab als Ente entlarvt: "Mesut ist in einer überragenden Verfassung", sagte Löw am Tag vor dem Spiel. Das allerdings muss sich nach diesen 90 Minuten von Lille erst noch zeigen.

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Den ersten deutschen EM-Treffer erzielt Mustafi, die DFB-Elf spielt munter nach vorne, doch die Ukrainer bleiben lange gefährlich. Dann kommt der Capitano und trifft. Es ist kaum zu fassen. Das Spiel im Rückblick.

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Überraschender war da schon, dass Boateng offenbar den Auftrag hatte, statt seines weltweit geschätzten Aufbauspiels einen hohen Ball nach dem anderen über Kameraden und Gegner hinweg zu schlagen. Vielleicht gab es diesen Auftrag aber auch gar nicht - jedenfalls stellte Boateng diese Art des Spielgestaltens bald wieder ein.

Dass der frühe Treffer nach einer Standardsituation fiel (19. Minute), das dürfte auch nur noch Fußballfreunde erstaunt haben, die Löws Wandel vom Ästheten zum Pragmatiker in den letzten Jahren verpasst haben. Ecken und Freistöße fand der Bundestrainer ja schon bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien nicht mehr bäh. Ein Freistoß also von der rechten Seite, von Toni Kroos präzise vors Tor gezogen - und der aufgerückte Mustafi traf den Ball optimal mit dem Kopf. In doppelter Lichtgeschwindigkeit (oder wenigstens fürs menschliche Auge beinahe unsichtbar) flog er zum 1:0 ins Netz.

Der Treffer fiel in der besten weil über- legensten Phase der Deutschen. Schon kurz vorher hatte Draxler eine gute Flanke auf Müller geschlagen, Müller hatte klug per Kopf weitergeleitet auf Jonas Hector - der aber von Berufswegen doch zu sehr Linksverteidiger und zu wenig Zirkusartist ist, um den angedeuteten Seitfallzieher auch ins Ziel zu bringen (12.). Und in der 29. Minute kam dann einer jener Traumpässe aus Kroos' erstaunlichem Fußgelenk angeflogen - Sami Khedira traf nur den Torwart.

Um es mal in der Sprache der Pyrotechniker zu sagen, war all das aber bloß ein harmloses Böllern - im Vergleich zu dem Offensiv-Feuerwerk, das die Ukrainer nun einigermaßen unerwartet abbrannten. Unerwartet vor allem für die deutsche Abwehr, die bisher kaum mal Bekanntschaft mit einem der Männer in den gelben Trikots gemacht hatte. Aber jetzt trauten sich die Ukrainer plötzlich etwas zu.

Neuer, der bereits in der 5. Minute erstmals durch seinen Strafraum geflogen war, um einen Schuss von Konopljanka zu entschärfen, war nun nicht nur als Mann mit der Binde, sondern als unverzichtbarer Rückhalt gefragt. Einen Kopfball von Chatscheridi wehrte er reaktionsschnell mit dem Arm ab (27.). Dann wurde das Durcheinander in der deutschen Hintermannschaft geradezu spektakulär.

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Die Szene des Spiels: Wie Boateng in der 36. Minute den Ball im Rückwärtsfallen noch irgendwie von der Linie kratzte, nachdem er ihn vorher den Ukrainern relativ ungeschickt übereignet hatte. Nur dank der Torlinientechnologie war klar: Die Hälfte der Kugel war zwar schon oberhalb der weißen Kreide - aber eben nicht dahinter. Es war hier also nur eine Frage von Zehntel- sekunden, dass die Deutschen die ersten drei Punkte einsammeln konnten.

Das Durcheinander in der deutschen Defensive wurde geradezu spektakulär

In der zweiten Halbzeit stand die Elf dann wieder stabiler - was auch daran lag, dass sie mehr eigene Chancen kreierte. Bojko entschärfte einen platzierten Schuss von Draxler, ein Weitschuss von Kroos streifte die Latte, Khedira versuchte es ebenfalls aus der Distanz - abgewehrt. Auch Özil und Götze hatten Gelegenheiten, brachten aber wenig Druck hinter den Ball. Weil Mustafi kurz vor Schluss zwar per Harakiri-Rückgabe Neuer überwand, der Ball aber am Tor vorbei hüpfte, blieb es beim 1:0.

Und weil der gerade erst eingewechselte Schweinsteiger eine Özil-Flanke verwertete, stand es am Ende 2:0. "Unglaublich, dass es so etwas gibt", staunte Schweinsteiger selbst, der zugab: "Der Weg nach dem Jubel war lang, ich bin etwas außer Atem." Für Gesprächsstoff ist jetzt vor dem Spiel gegen Polen am Donnerstag gesorgt.

© SZ vom 13.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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