DFB-Auswahl:Zu Gast in der Stadt der Tabellenletzten

In Ermangelung brisanterer Themen wird vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Tschechien der Fußball-Standort Hamburg diskutiert.

Von Philipp Selldorf, Hamburg

Am Tag vor der Begegnung mit Tschechien wurden viele wichtige Themen erörtert, als Bundestrainer Joachim Löw zur Lagebesprechung vor die Presse trat. Das wichtigste Thema kam aber erst zum Schluss an die Reihe: Es ging um den mutmaßlich größten Risikofaktor, dem der Weltmeister am Samstagabend im Volksparkstadion ausgesetzt sein wird. Um eine konkrete und schwerwiegende Bedrohung, die im ärgsten Fall zu Zerfall, Siechtum und Zwangsneurosen führt. Es ging also nicht um die Spielstärke der Tschechen oder die deutsche Mittelstürmer-Misere, sondern um die Frage, ob die Nationalelf vom Zustand des Hamburger SV erfasst werden könnte, wenn sie in dessen Stadion trainiert und spielt.

Doch vor der Hamburger Krankheit hat Löw keine Angst: "Ich glaube, es wird nichts abfärben", sagte er - ein Satz, der, losgelöst vom Kontext, in seiner Klarheit mediale Beachtung finden wird. Schließlich impliziert er, dass dem HSV in der Tat etwas böses Ansteckendes innewohnt.

Selbstredend wollte Löw niemanden beleidigen. In Wahrheit versuchte er sogar persönliches Mitgefühl auszudrücken, dass in dieser großartigen Stadt kein großartiger Klub zu Hause ist. Warum das so ist, dazu wollte Löw sich nicht äußern ("Nicht meine Sache"), aber dass ihm zum ruhmreichen HSV kein anderes aktuelles Qualitätsmerkmal einfiel als dessen törichter Spitzname ("Er ist ja der Dino"), das gab auch die Kluft zu erkennen, die zwischen dem Klub und dem Nationalteam besteht. Vorbei die Zeiten, da der HSV die DFB-Auswahl belieferte. Das Hamburger Abendblatt listete auf, dass der Verein fünf Ex-Nationalspieler beschäftigt (Adler, Hunt, Holtby, Müller, Lasogga), während dem Nationalteam drei Ex-Hamburger angehören (Boateng, Mustafi, Tah).

Über den Geist des Ortes zu reden, ist speziell in Hamburg angebracht. Die Geschichte der Länderspiele an Elbe und Alster ist keine glückliche. Es gab brisante Niederlagen wie das 0:1 gegen die DDR 1974 (WM) oder das 1:2 im EM-Halbfinale gegen die Niederlande 1988, und es gab Spiele, die in Enttäuschung endeten. Zuletzt war Löw 2014 in Hamburg, kurz vor der WM setzte er beim 0:0 im Test gegen Polen zwölf Debütanten ein, von denen kein einziger dem HSV angehörte. "Jetzt sind die Voraussetzungen aber komplett anders", gab Mittelfeldspieler Sami Khedira zu bedenken. "Jetzt ist das Spiel ausverkauft, das heißt: Die Hamburger freuen sich auf dieses Spiel." Was ja nur nahe liegt in einer Stadt, in der beide großen Vereine in ihren jeweiligen Ligen Letzter sind.

Jogi Löw hat ohnehin längst gelernt, potenzielle äußere Einflüsse wie den geheimnisvollen Genius loci oder schlecht gelaunte Zuschauer auszublenden. Er hat die Mannschaft beisammen, die er haben will; verlässliche Größen wie Neuer, Boateng, Hummels, Khedira, Kroos und Müller geben ihm ein beruhigendes Gefühl; für die prekären Positionen in der Außenverteidigung hat er in Hector und Kimmich zwei Lösungen gefunden, die das Stadium des Improvisierens hinter sich gelassen haben. Im Herbst 2016 sieht Löw sein Werk so gefestigt wie nie zuvor, das geht nicht zuletzt aus seiner Analyse der EM hervor, von der er nun mit gewisser Verspätung berichtete: "In vielen Bereichen, die uns wichtig waren, waren wir besser als bei der WM 2014", hat Löw festgestellt: weniger Konter zugelassen, mehr scharfe Pässe in die Spitze gespielt, mehr Torchancen geschaffen. Was fehlte, das waren die Tore.

Daran wird jetzt angeblich gearbeitet. Er habe die Mannschaft noch mal darüber aufgeklärt, "dass wir uns das Leben selbst schwer machen, wenn wir eben nicht das 1:0 oder 2:0 schießen". Fragen nach seinen eigenen EM-Fehlleistungen nahm Löw aufgeschlossen entgegen. Es fielen ihm allerdings keine ein. Und zum HSV kam ihm schließlich doch noch etwas Nettes in den Sinn: Löw lobte ausführlich und herzlich Uwe Seeler, der demnächst seinen 80. Geburtstag feiert.

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