Deutschland vor der Handball-EM:Eine typisch deutsche Debatte

Christian Prokop

Steht erstmals in der Kritik: Deutschlands Handball-Nationaltrainer Christian Prokop.

(Foto: dpa)
  • Handball-Bundestrainer Christian Prokop nominiert den Kader für die EM in Kroatien - und erntet für seine Auswahl Kritik.
  • Vor allem der Verzicht auf Fabian Wiede und Finn Lemke wird als Risiko gesehen.
  • Vizepräsident Hanning verteidigt den Trainer.

Von Ralf Tögel

Fünf Minuten vor dem Ende des letzten Testspiels der deutschen Handball-Nationalmannschaft gegen Island war die erste Entscheidung gefallen. Es war der Moment, als Bundestrainer Christian Prokop Marian Michalczik auf das Spielfeld der Arena in Neu-Ulm beorderte, eine Art Dankeschön für den Einsatz des Mindener Rückraumspielers im Vorbereitungsprogramm auf die Europameisterschaft in Kroatien (12. bis 28. Januar). Dort wird der Titelverteidiger gegen Montenegro in das Turnier starten. Dass Michalczik den Flieger Richtung Zagreb nicht besteigen wird, war klar: Der 22-Jährige ist ein Halblinker für die Zukunft, auf dieser Position hatte Prokop angesichts erstklassiger Akteure ohnehin die Qual der Wahl.

Allerdings musste er den Kader um drei weitere Akteure verknappen, auch der Verzicht auf den Kieler Linksaußen Rune Dahmke war erwartet worden, denn Kapitän Uwe Gensheimer ist auf dieser Position gesetzt. Lediglich eine Verletzung könnte ihn verdrängen, eine EM ist im Gegensatz zu einer Weltmeisterschaft, die Exoten im Feld hat, zu stark besetzt, um Stammkräfte zu schonen. Dahmke hätte mangels reeller Einsatzchancen einen Platz besetzt, den Prokop lieber anders vergeben hat.

"Ich brauche keinen Trainer für populistische Entscheidungen"

Die letzten beiden Streichkandidaten hatten indes wenige auf der Rechnung, denn in Finn Lemke und Fabian Wiede müssen zwei Europameister von 2016 zu Hause bleiben. Für den Abwehrchef aus Melsungen und den Linkshänder von den Füchsen Berlin bekamen die Leipziger Bastian Roscheck und Maximilian Janke ein Ticket nach Kroatien. Das überraschte, weil Abwehrspezialist Roscheck, 26, und der linke Rückraumspieler Janke, 24, Debütanten im Nationaltrikot sind. Prokops Entscheidung hat umgehend Kritik hervorgerufen, der ehemalige Welthandballer Daniel Stephan warnte, dass diese Nominierungen "zum Bumerang werden können".

Lemkes Vereinstrainer Michael Roth sagte zu Sport1: "Auf solche Qualität ohne Not zu verzichten, wirft Fragen auf. Wenn einer das alles mitbringt wie Lemke und keine Verletzung hat, ist es schon fahrlässig." Prokop geht zweifellos ins Risiko, zumal er zwei Spieler bevorzugt, die er bis zum Sommer 2017 als Klubcoach in Leipzig betreute. Der ausgemusterte Lemke war beim Titelgewinn vor zwei Jahren in Polen nicht nur wegen seinen 2,10 Meter eine Größe, keiner lebte auf dem Parkett das vom Deutschen Handballbund (DHB) gepflegte Image der Bad Boys so wie der 25-Jährige.

In Linkshänder Wiede, 23, fehlt ein nervenstarker Werfer, der Spiele im Alleingang drehen kann. Gleichwohl hatte Prokop angedeutet, dass er einen der drei Akteure im rechten Rückraum ausgliedern werde: Kai Häfner hinterließ den stärksten Eindruck, für Steffen Weinhold dürfte die Erfahrung gesprochen haben.

Man darf davon ausgehen, dass Prokop sein Team nicht per Strohhalmziehen zusammengestellt hat. Roscheck ist ebenfalls Abwehrspezialist, seine größere Beweglichkeit hat den Ausschlag gegenüber Lemke gegeben: Der Bundestrainer favorisiert eine flexible 6:0-Abwehr, die sich wie eine Ziehharmonika am ballführenden Gegner ausrichtet. Die Berufung von Philipp Weber, dem dritten Leipziger im Kader, ist hingegen gerechtfertigt. Der 25-Jährige hat rechtzeitig nach seinem Mittelfußbruch Anfang November zur Bestform zurückgefunden, war bei den Siegen gegen Island (36:29 und 30:21) auffälligster Akteur und ist der einzig gelernte Mitte-Spieler, was den dritten Linkshänder im Rückraum als Alternative für die Mittelposition entbehrlich macht. Für Prokop hat das Kollektiv Priorität, er hat sich die passenden Akteure für sein System ausgesucht.

Hanning verteidigt Prokop

Einen starken Fürsprecher hat der 39-Jährige in Bob Hanning. Der meinungsstarke DHB-Vizepräsident will nichts wissen von der These, dass Prokop als Novize eine Duftmarke setzen will: "Ich brauche keinen Trainer, der populistische Entscheidungen trifft, sondern einen, der die richtigen trifft." Auch die vergleichbare Debatte über die jungen Systemtrainer im Fußball will Hanning erst gar nicht auf seine Sportart projizieren. Schalkes neuer Coach Domenico Tedesco, 32, etwa hatte im Sommer Entrüstung entfacht, als er dem Weltmeister Benedikt Höwedes den Stammplatz verweigerte und ihn so aus Gelsenkirchen vertrieb.

Hanning findet diesen Vergleich konstruiert: "Ich sehe den Kader nach wie vor als 20er-Kader", erklärt der für den Leistungssport zuständige Mann im DHB, denn bis zu sechs Spieler dürfen nachnominiert werden - und Zagreb ist keine eineinhalb Stunden Flugdauer entfernt. Auch einen Alleingang von Prokop dementiert Hanning: "Wir waren alle bis zum letzten Tag in seine Entscheidungen eingeweiht." Womit er das DHB-Präsidium und den Spielerrat meint. "Wenn etwas nicht aufgeht und man es nicht korrigiert, erst dann hätte man einen Fehler gemacht", sagt Hanning; der eine oder andere Ersatzspieler könne im Turnierverlauf durchaus noch in Kroatien auftauchen. Der DHB-Vize ist leidlich genervt von dieser "typisch deutschen" Debatte. Der hauptberufliche Manager der Füchse Berlin sah sich ähnlicher Kritik ausgesetzt, als er einst Prokops Vorgänger Dagur Sigurdsson von den Füchsen zum DHB lotste. Als der Isländer dann die Berliner Wiede und Paul Drux zu Nationalspielern machte, "wurde uns Vetternwirtschaft unterstellt".

Für Hanning steht Prokops Kompetenz außer Frage, er habe ihn nicht geholt, um das Erreichte zu verwalten, sondern, um die Mannschaft weiterzuentwickeln. "Was passiert, wenn man stehen bleibt, haben wir im WM-Achtelfinale in Frankreich gesehen", erinnert Hanning: Im vergangenen Januar war Deutschland überraschend an Katar gescheitert. Die Entscheidungen seines ersten sportlichen Angestellten, so ließ der DHB-Vizepräsident Leistungssport noch wissen, halte er allesamt für "nachvollziehbar und gerechtfertigt".

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