Deutschland gewinnt gegen Niederlande 2:1:Gomez tanzt, Holland taumelt

Mario Gomez zeigt es seinen Kritikern: Mit zwei Treffern schießt der Stürmer Deutschland zum Sieg gegen die Niederlande. Am Ende wird es noch einmal spannend, doch in der Hitze von Charkow bringt die deutsche Elf den Vorsprung über die Zeit. Joachim Löws Team hat nach dem 2:1 beste Chancen auf das EM-Viertelfinale - Holland ist dagegen fast raus.

Johannes Aumüller

Das Einzige, was man den deutschen Fans vorwerfen musste, waren mangelnde Fähigkeiten in den Grundrechenarten. "Schade, Holland, alles ist vorbei", sangen sie, als das Spiel in seine letzten Minuten ging - doch das stimmt natürlich nicht. Denn die Elftal verlor zwar in einem extrem spannenden Spiel gegen die DFB-Elf mit 1:2 (0:2). Doch rechnerisch ist sie trotz zweier Niederlagen noch nicht ausgeschieden, und rechnerisch ist auch die deutsche Mannschaft trotz zweier Siege noch nicht im Viertelfinale.

In den Stunden vor der Partie hatten die deutschen Fans ja den Eindruck gewinnen müssen, als stünde ein Auswärtsspiel bevor. Den ganzen Tag über waren die holländischen Fans in Charkow in der Überzahl gewesen. Die Anzahl der Extra-Maschinen, die alleine bis zum Mittag aus Amsterdam ankamen, stand der Anzahl der Torchancen, die die Elftal zum EM-Auftakt gegen Dänemark vergeben hatte, in nichts nach.

Selbst das Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko schmückten irgendwann orangefarbene Schals und Wimpel. Und in der Fanzone auf dem zentralen Freiheitsplatz durften die Holländer die Musikauswahl bestimmen - was aus falsch interpretierten Gerechtigkeitsgefühl zur Folge hatte, dass dort bisweilen "Viva Colonia" zu hören war.

Im Stadion hingegen war die Kräfteverteilung ausgeglichener, als der schwedische Schiedsrichter Jonas Eriksson am Abend das 39. deutsch-holländische Duell der Fußball-Geschichte seit dem 24. April 1910 anpfiff. Joachim Löw hatte dabei die Startelf nominiert, die vier Tage zuvor Portugal bezwungen hatte. Es war in Charkow zwar so heiß und schwül wie erwartet, aber Löw hatte ja schon vorher per amtlichem Wetterignorierungsgesetz verkündet, die Hitze und die Schwüle dürften keine Rolle spielen.

Und das taten sie auch nicht: Schon in der siebten Minute hatte Holland die erste Großchance, als die deutsche Abwehr einen langen Ball von Mark van Bommel unterschätzte und Robin van Persie frei zum Schuss kam - doch Manuel Neuer hielt. Nur kurze Zeit später versuchte es Mesut Özil auf der Gegenseite, doch sein Volleyschuss sprang erst gegen den Pfosten und von dort in die Arme von Hollands Torwart Maarten Stekelenburg.

Nach 24 Minuten durfte Löw das erste Mal jubeln - ausgerechnet dank des zuletzt trotz Torerfolgs kritisierten Mario Gomez und des auch ohne Torerfolg kritisierten Bastian Schweinsteiger. Die holländische Defensive gewährte Schweinsteiger viel Raum, der spielte diagonal auf Gomez, der eine so fantastische Ballannahme zeigte, dass sie selbst Mehmet Scholl schwer gefallen wäre, und schoss zum 1:0 ein.

"Der Mario war immer ein Kämpfertyp", lobte Löw nach dem Spiel und attestierte Gomez, seine Sache "klasse gemacht" zu haben. "Mario war heute weltklasse", sagte auch Kapitän Philipp Lahm.

Holland war gefordert. Doch es zeigte sich einmal mehr die Schwachstelle ihres Systems: Da stand zwar das formidabelste holländische Offensiv-Quartett seit dem 24. April 1910 auf dem Platz, doch dieses formidable Offensiv-Quartett erhielt kaum Unterstützung - weil es sich bei den möglichen Unterstützern eben nicht um kreative Mittelfeldakteure handelte, sondern um Mark van Bommel und Nigel de Jong.

"Kann van Marwijk auch ausgewechselt werden?"

Stattdessen erarbeiteten sich die Deutschen die besseren Torchancen. Erst versuchte es Thomas Müller mit einer scharfen Hereingabe von der rechten Seite (32.), dann kam Holger Badstuber vor Stekelenburg völlig frei zum Kopfball (37.). Er war dabei so frei, dass sich Löw sicherlich noch länger darüber geärgert hätten - wenn nicht zwei Minuten wieder Schweinsteiger und Gomez geglänzt hätten. Wieder war Schweinsteiger unbedrängt, wieder spielte er diagonal, und diesmal musste Gomez nicht einmal eine fantastische Ballannahme zeigen, um den Ball von rechts zum 2:0 ins lange Eck zu schießen.

Euro 2012: Niederlande - Deutschland

Mario Gomez feiert mit Philipp Lahm den Sieg über die Niederlande.

(Foto: dapd)

Vor dem Spiel hatte die Nationalmannschaft ja besorgniserregende Statistiken lesen müssen, nach denen sie nur in einem der vergangenen sieben Fälle ihr zweites Turnierspiel gewonnen hatte. Doch was interessiert die Nationalmannschaft des Jahres 2012 schon die Statistik der vergangenen Jahre?

Wenn es schon eine frühere DFB-Elf gibt, mit der sie sich verglichen wissen will, dann höchstens diejenige, von der immer behauptet wird, sie habe in der Geschichte des deutschen Fußballs den schönsten und erfolgreichsten Fußball gespielt: der EM-Mannschaft von 1972. Und die hatte ihr zweites Turnierspiel damals gewonnen. Das war damals zwar schon das Finale, weil an der Endrunde nur vier Mannschaften teilnahmen, aber egal. Zweites Turnierspiel ist zweites Turnierspiel.

Hollands Trainer Bert van Marwijk reagierte zur Halbzeit verblüffenderweise nicht so, wie ihm das die Journalisten des Algemeen Dagblad via Twitter nahegelegt hatten: "Kann van Marwijk auch ausgewechselt werden?" Den Regularien des Spiels zufolge könnte er zwar, wie einst Jean Löring und Toni Schumacher bewiesen, er tat es aber nicht. Dafür nahm er seinen Schwiegersohn van Bommel und Ibrahim Afellay aus dem Spiel und brachte Klaas-Jan Huntelaar und Rafael van der Vaart.

Doch die offensivere Ausrichtung brachte zunächst kaum etwas. Deutschland stand extrem gut, kontrollierte die Partie und hatte in der 53. Minute die große Chance zum dritten Tor: Mats Hummels war mit nach vorne gegangen, scheiterte aber Stekelenburg.

Erst danach zeigte die offensivere Einstellung Wirkung - und wie. Binnen einer Viertelstunde erarbeitete sich die Elftal vier hochkarätige Chancen. Erst parierte Neuer einen starken Schuss von van Persie (58.), dann zog Wesley Sneijder nur knapp am Tor vorbei (63.), dann zog Sneijder so stark ab, dass nur noch die Rippen von Boateng retteten (71) - und dann fiel in der 73. Minute endlich, endlich aus holländischer Sicht das Tor, als Robin van Persie per unbedrängtem Schuss von der Strafraumgrenze aus Manuel Neuer überwand.

Doch wer nun erwartet hatte, dass die Holländer diesen Schwung fortsetzen würde, sah sich getäuscht. Nach dem Anschlusstor sortierten sich die Deutschen wieder besser, und die Elftal kam kaum noch zu Chancen. Und die Fans sangen, mathematisch völlig korrekt: "Lala, lala, lalala."

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