Deutschland:Boateng entlarvt die wahren Probleme

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Mario Gomez (links) und Jérôme Boateng. (Foto: REUTERS)

Hat Jérôme Boateng das DFB-Team mit seiner Stürmer-Kritik in zwei Lager gespalten? Nein, sein Weckruf war richtig und wichtig.

Von Philipp Selldorf, Paris

Jérôme Boateng ist bekanntlich groß und mächtig, mindestens so stark wie ein Großhydraulikbagger von Caterpillar und tätowiert wie ein Seemann in der Hafenbar. Er ist also eine äußerst eindrucksvolle Erscheinung, und daher ist man jedes Mal aufs Neue erstaunt, wenn er mit einer Stimme, die so gar nicht groß und mächtig ist, zur Rede anhebt. Dann hört er sich demutvoll und bescheiden an wie ein Franziskanermönch. Auch am Donnerstagabend im Stade de France war sein weicher Tonfall wieder zu hören, aber es waren trotz der leisen Stimme laute Worte.

Manche Zuhörer meinten später, Boatengs Äußerungen seien geeignet, einen "Bruch" innerhalb der Nationalelf zu markieren, sozusagen die Konfrontation zwischen zwei Fraktionen. Die Theorie der Lagerbildung führt aber auf die falsche Fährte. Boateng liegt es ganz sicher fern, den inneren Frieden im Team aufzukündigen, dennoch hat er aus voller Überzeugung gesprochen, als er nach dem 0:0 gegen Polen Reden hielt, die einer Anklage gegen die Mitspieler glichen.

Es braucht auch niemand zu meinen, dass der Münchner Verteidiger noch unter dem erregenden Einfluss einer hitzigen Partie stand, in der er mit artistischem Geschick, äußerstem Einsatz und manchmal auch mit roher Gewalt seiner Arbeit nachgegangen war. Jérôme Boateng, 27, war klar bei Sinnen, als er die realen Probleme der Mannschaft benannt hat, seine Worte hatten den Charakter einer Entlarvung. "Wir werden nicht gefährlich", sagte er in Richtung der deutschen Offensivspieler, deren Engagement er offen bemängelte, "das müssen wir verbessern. Sonst kommen wir nicht weit."

Peinlich berührt nach dem Schlusspfiff

Nach dem Schlusspfiff im Stade de France machten die deutschen Spieler einen recht betretenen, zum Teil einen peinlich berührten Eindruck. Gegen das kahle Unentschieden hatten sie gar nicht viel einzuwenden, die Polen waren in allen Belangen ein starker Gegner, darauf hinzuweisen war keine faule Ausrede, auch in den Torchancen herrschte Gleichstand. Der kritische Punkt bestand darin, dass die Vertreter des aktuellen Weltmeisters in der Schlussbilanz nicht mehr als eine ganze und zwei halbe Torchancen vorweisen konnten, ein Ertrag, den sie üblicherweise binnen einer halben Halbzeit vorlegen. Und mancher erinnerte sich, dass auch im Spiel gegen die Ukraine die Offensivbemühungen nicht brillant waren, was aber weniger auffiel, weil an jenem Abend alle auf die Abwehrlöcher deuteten.

Torlosigkeit ist auch für einen Weltmeister kein Verbrechen, solange es nicht ständig vorkommt - zumal gegen ein Polen, das den eigenen Strafraum effektvoll bewachte. Boateng entdeckte jenseits der verdienten Komplimente an den Gegner aber sein generelles Unbehagen mit dem großen Ganzen: "Offensiv hat heute viel gefehlt. Wir müssen viel mehr in Laufwege investieren, und uns schneller ohne Ball bewegen, in die Tiefe gehen, aggressiver sein, mehr Zweikämpfe gewinnen."

Abgesehen davon, dass hier ein Verteidiger den Offensivspielern ihren Job erklärte und dass die Schelte sich anhörte, als würde der Lehrer Lämpel mit wild wedelndem Zeigefinger seine Schüler zurechtweisen, enthielten die Formulierungen des deutschen Chef-Verteidigers einen speziellen Wiedererkennungswert. Mario Götze, 23, mussten sie vom FC Bayern bekannt vorkommen. Mehr oder weniger wortgleiche Vorwürfe hat er sich dort anhören müssen, mit dem Ergebnis, dass sein Arbeitgeber ihn loswerden möchte. Götze gab sich gelassen, als er zur Abreise aus der Kabine hervorkam und mit dem Thema konfrontiert wurde.

Es sei "auf alle Fälle noch Verbesserungspotenzial da, vorne hätten wir uns mehr Möglichkeiten erspielen müssen und sollen", räumte er ein, berief sich aber auf die Last der Umstände: "Es ist immer schwierig, gerade dann, wenn der Gegner so tief steht. Dann werden die Räume immer und immer enger. Ich habe versucht, Räume zu schaffen und Tiefe zu schaffen. Das ist relativ gut gelungen in der einen oder anderen Hinsicht." Das angebliche Dickicht der Deckung war so dicht, dass Mesut Özil von Visionen einer roten Übermacht ergriffen wurde, als er Lücken für ein feines Pässchen aufzuspüren suchte: "Wir haben nicht so viele Chancen herausgespielt, weil die Polen heute mit 50 Mann hinten waren", erklärte er.

Özil und all die anderen, die den Gegner des spielverderberischen Catenaccio bezichtigten, hatten Unrecht. Die Polen verteidigten fachgerecht, aber sie mauerten nicht. Was also Götze mit seiner umständlichen Rede meinte, das wusste er vermutlich selbst nicht. Der Noch-Münchner bleibt ein Spieler auf der Suche nach seiner Bestimmung, am Donnerstagabend entglitt ihm auch noch die improvisierte Ensemblerolle als falsche Neun, als "False Nine" im englischen Fachsprech angekommen.

Seine Dribblings blieben auf bedauernswerte Weise fruchtlos, kein Vergleich mit dem Götze, der einst in Dortmund in rasendem Slalom durch den Strafraum kurvte. Nach einer Stunde riefen deutsche Fans vereint nach Mario Gomez - ein Vorgang, der einmalig ist in Gomez' Länderspielkarriere. Aber auch die echte Neun konnte sich im Zwanzig-Minuten-Einsatz nicht empfehlen.

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Götzes Unproduktivität

Nicht zuletzt aber beruhte Götzes Unproduktivität auch auf Pflichterfüllung. Offenbar gab es die Order, die befürchteten schnellen Gegenangriffe der Polen so früh wie möglich im Kollektiv zu bekämpfen. Auch Özil und Julian Draxler hielten sich an diesen Plan, manchmal schien ihnen dann der Raum und die Zeit und die Luft zu fehlen, um offensive Ideen zu verwirklichen. "Der letzte zündende Gedanke fehlte", meinte Thomas Müller, der bei diesem Turnier wohl nicht zum Torschützenkönig gekrönt wird. Damit komme er zurecht, sagt er, und er könne es auch verkraften, wenn er keine Tore schieße. Aber es besorgt ihn, dass er trotz erwiesener Schwerstarbeit im Angriffsdrittel keine Torchancen bekommt.

Müller mutmaßte: "In der Offensive haben wir in Deutschland gegen Abwehrbollwerke nicht den Eins-gegen-eins-Spieler, wie wir es vielleicht beim FC Bayern haben. So ein Spieler fehlt vielleicht, aber den können wir uns in Deutschland nicht herzaubern." Benedikt Höwedes und Jonas Hector, die neben ihren Verteidigergeschäften die Außenpositionen bekleiden sollen, eignen sich eher nicht als Ribéry und Robben. Was ihnen nicht vorzuwerfen ist.

Noch muss sich herausstellen, ob die schwächlichen Sturmbemühungen der Deutschen auf Tagesform- oder Einstellungsdefizite zurückgehen oder ob taktische Zwänge im Weg waren. Es wird auch schon über ein Qualitätsproblem debattiert. "Wir müssen aufwachen! Wir müssen viel besser spielen", sagte Boateng - und damit liegt er ja auf jeden Fall richtig.

© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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