Deutschland bei der Handball-EM:Ein Wechselfehler, der im Freudentaumel untergeht

Deutschland bei der Handball-EM: Wenige Sekunden nach dem 34:33 jubelt das deutsche Team über den Einzug ins Finale der Handball-EM.

Wenige Sekunden nach dem 34:33 jubelt das deutsche Team über den Einzug ins Finale der Handball-EM.

(Foto: AFP)
  • Deutschland besiegt Norwegen im Halbfinale der Handball-EM nach Verlängerung 34:33.
  • Kurz vor Schluss unterläuft den Deutschen ein Wechselfehler. Norwegen legte zunächst Protest ein, zog ihn mittlerweile aber zurück.
  • Hier geht es zu den Ergebnissen der Handball-EM.

Von Joachim Mölter, Krakau

Ab ins Hotel, die müden Muskeln gleich vom Physiotherapeuten durchkneten lassen, bald ins Bett und schnell einschlafen - so hatte sich das der deutsche Handball-Torwart Andreas Wolff vorgestellt nach dem EM-Halbfinale am Freitagabend in Krakau. "Ich bin ganz erschlagen nach diesem famosen Spiel", hatte der 24-Jährige gesagt.

Aber so einfach zur Ruhe kommt man natürlich nicht nach einem K.o.-Spiel. Da tropft das Adrenalin sowieso aus den Augen, erst recht nach einem so nervenaufreibenden Thriller, wie es der gegen Norwegen gewesen war: 13:14 zur Pause, 27:27 nach 60 Minuten, 31:30 nach den ersten fünf Minuten der Verlängerung, 34:33 nach den zweiten.

Damit war es aber noch nicht vorbei: Die Norweger kündigten am späten Abend einen Protest an, den sie am Samstagmorgen schriftlich begründen mussten, damit ein Schiedsgericht des europäischen Verbandes EHF bis zum Mittag entscheiden konnte. Mittlerweile haben sie diesen Protest allerdings zurückgezogen. Nun dürfen die Auswahlspieler des Deutschen Handballbundes (DHB) sicher sein, das Finale gegen Spanien am Sonntag (17.30 Uhr/ARD) erreicht zu haben. Den DHB-Vizepräsidenten Bob Hanning hatte der Protest schon am Freitagabend nicht mehr aufgewühlt. "Wir sehen der Verhandlung gelassen entgegen und freuen uns auf das Finale", hatte er ausrichten lassen, ehe er zu Bett ging. Er behielt recht.

Der Grund für den zwischenzeitlichen Protest der unterlegenen Norweger war im Trubel zu finden, der nach Kai Häfners Tor zum 34:33 fünf Sekunden vor Schluss der Verlängerung aufs Spielfeld geschwappt war. Da standen für einen Moment zwei DHB-Profis mit gelbem Leibchen auf dem Parkett, das bestätigten Fernsehbilder: der etatmäßige Torhüter Wolff sowie der junge Rückraumspieler Simon Ernst, der sich ein Torwartleibchen übergestreift hatte, um noch schnell für Wolff als siebter Feldspieler einzugreifen.

Formal war das ein Wechselfehler, der mit Spielstopp, Zeitstrafe für Ernst und Ballbesitz für Norwegen hätte geahndet werden müssen. Doch die Schiedsrichter und das Kampfgericht hatten im ausbrechenden Freudentaumel der deutschen Handballer offenbar den Überblick verloren und ließen die Partie auslaufen. Die Norweger wollten gern die letzten Sekunden nachspielen (und unter glücklichen Umständen noch eine Chance zum Ausgleich bekommen), was in der Praxis jedoch schwierig zu bewerkstelligen gewesen wäre, einen Tag vor dem Endspiel. In solchen Fällen kommt oft das Argument der unabänderlichen Tatsachenentscheidung zur Geltung.

Es war nicht das erste Mal in diesem Turnier, dass der DHB-Auswahl dieser Wechselfehler unterlaufen ist: Im Vorrundenspiel gegen Schweden (27:26) war es Niklas Pieczkowski gewesen, der im gelben Leibchen aufs Feld gestürmt war, ehe Wolff es verlassen hatte. Das hatte die Mannschaft von Bundestrainer Dagur Sigurdsson in die Bredouille gebracht, sie fiel in dieser Phase von 10:11 auf 10:14 zurück und musste sich dann mühsam wieder herankämpfen.

Man kann dieses Malheur auf die ungestüme Jugend der Akteure zurückführen: Die Auswahl des DHB ist ja die jüngste im gesamten Turnier mit 24,6 Jahren. Man kann es auch als Zeichen des unbedingten Einsatzwillens auffassen. Kein Trainer der Welt sieht so etwas gerne, aber Dagur Sigurdsson verzeiht es seiner Rasselbande. Das bestätigte der Rückraumspieler Julius Kühn: "Jeder Spieler hat das Vertrauen des Trainers und aller Mitspieler, jeder kann Fehler machen."

Kühn hatte solche Fehler in der ersten Halbzeit des Halbfinales gemacht und ein paar Mal überhastet den Ball verloren. Nach dem Seitenwechsel zahlte er das Vertrauen dann mit fünf Toren zurück. In Phasen, in denen sein Team den Anschluss zu verlieren drohte.

Reichmann trifft vom Siebenmeterstrich alles

Gemeinsam mit dem ebenfalls fünfmal erfolgreichen Siegtorschützen Kai Häfner vom TSV Hannover-Burgdorf war der Gummersbacher Kühn einer der Helden des Abends. "Man hat gesehen, dass wir an der körperlichen Grenze waren. Uns fehlte die Power bei den Würfen", bilanzierte Sigurdsson: "Da haben uns Julius und Kai geholfen, beide waren frisch."

Sie waren ja auch erst am vorigen Montag nach Polen eingeflogen, weil sich tags zuvor in der Partie gegen Russland (30:29) sowohl Kapitän Steffen Weinhold als auch Torjäger Christian Dissinger verletzt hatten und für den Rest des Turniers ausfielen. "Es war gut, dass sie schon bei unserem letzten Vorbereitungslehrgang in Berlin dabei waren", sagte Sigurdsson über die Neuankömmlinge: "Da geht die Integration schneller, sie wissen, was wir spielen wollen."

Schon vor dem Fernsehgerät hatten Häfner, 26, und Kühn, 22, den Eindruck bekommen, dass ein besonderer Geist im DHB-Team herrscht. "Die Leute merken, dass sich diese Mannschaft reinhängt, dass sie sich engagiert, dass sie will", sagte Häfner bei seiner Ankunft. "Mit hat der Teamzusammenhalt imponiert, dass sie sich auch in engen, kritischen Phasen immer weiter angefeuert hat", hatte Kühn im TV beobachtet.

Die Live-Eindrücke am Ort bestätigten das, während Häfner nach dem Halbfinale gegen Norwegen erst einmal zur Dopingkontrolle musste, sprach Kühn davon, dass "der grandiose Teamzusammenhalt belohnt" worden sei. Auch der für den polnischen Meister Vive Kielce aktive Rechtsaußen Tobias Reichmann schwärmte von einer "geilen Teamleistung", dabei hätte er allen Grund gehabt, sich selbst zu loben. Mit insgesamt zehn Toren war er der erfolgreichste Schütze der Partie und beeindruckte vor allem mit Nervenstärke am Siebenmeterstrich: Er verwandelte alle sieben Strafwürfe, die dem DHB-Team zuerkannt wurden. Im gesamten Turnier hat er bei 27 Versuchen nur einmal verworfen.

Spielerisch, das gaben die Akteure zu, waren sie nicht so berauschend gewesen wie bei den vorangegangen fünf Erfolgen ihrer Siegesserie. "Die Norweger haben uns alles abverlangt", sagte der Balinger Martin Strobel, 29, neben Torhüter Carsten Lichtlein, 35, der einzige mit vorheriger EM-Erfahrung im 16-Mann-Kader. "Das war nicht unser bestes Spiel heute, Norwegen hätte das Finale keinen Deut weniger verdient gehabt", gab DHB-Vize Hanning zu.

Der ging später guten Mutes schlafen, er ging ja zu diesem Zeitpunkt schon davon aus, dass seine Akteure im Finale sind. Das bedeutet, dass an der WM 2017 in Frankreich teilnehmen dürfen; und wenn sie das Endspiel auch noch gewinnen, ersparen sie sich sogar das Qualifikationsturnier für Olympia - als Europameister sind sie in Rio automatisch dabei. Die Norweger hingegen dürften eine schlaflose Nacht verbracht und ihren vergebenen Chancen hinterhergetrauert haben.

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