Deutsches Quartier für Fußball-WM:Die Nachbarn sind Spione

  • Die deutsche Nationalmannschaft bezieht Quartier in Watutinki, nahe der ersten Spielstätte in Moskau
  • Für diese praktische Lösung muss das DFB-Team allerdings Abstriche in Sachen Romantik machen.
  • Der einst als exklusiver Rückzugsort für die Partei-Elite geplante Komplex besticht mehr durch Militär-Optik als Strand-Kulisse.

Von Julian Hans, Watutinki

Jede Epoche hat ihren eigenen Luxus. Der französische Absolutismus brachte Versailles hervor. Der amerikanische Kapitalismus Las Vegas. Und die Sowjetunion Watutinki. Der Ort, an dem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr Quartier bezieht, wurde einst als exklusiver Rückzugsort für die Partei-Elite geplant. Fertig wurde die Anlage erst, als es die Sowjetunion schon nicht mehr gab. Heute ist das "Erholungsheim der Präsidialverwaltung des russischen Präsidenten" eine von Dutzenden solcher Anlagen im ganzen Land, in denen die Regeln und der Stil einer vergangenen Zeit weiterleben.

Vielleicht wird es zu den größten mentalen Herausforderungen für das deutsche Team bei dieser WM gehören, nicht ständig an Sotschi zu denken. An die Palmen, den Strand, das Meer - nur einen Steinwurf weit entfernt der Rasen für das Training. So hat die DFB-Auswahl vor einem Jahr beim Confed Cup gelebt, so hätten sie es wieder haben können. Stattdessen fährt der Mannschaftsbus jetzt durch farblose Betongebirge am Rande der russischen Hauptstadt, bis er an einem Schlagbaum mit Wachposten stoppt: Ein Mann in Flecktarnuniform bewacht das Tor ins Grüne. Ein drei Meter hoher Zaun aus grünem Blech trennt Wohnsilos und Kurort. Draußen Hochhausschluchten und staubige Straßen, drinnen verschlungene Spazierwege zwischen Birken und Fichten.

Logistik schlägt Romantik

Man glaubt dem Team-Manager Oliver Bierhoff, dass diese Wahl keine Herzensentscheidung war. Dass am Ende die Vernunft dafür gesprochen hat, ein Quartier zu wählen, das eine halbe Stunde Fahrt vom Luschniki-Stadion entfernt liegt, wo die Deutschen am Sonntag ihr Auftaktspiel gegen Mexiko bestreiten werden (und wo sie natürlich auch gern am 15. Juli im Finale spielen würden). Der Moskauer Flughafen Wnukowo liegt auch nur eine halbe Stunde entfernt in entgegengesetzter Richtung. Was helfen Strand und Palmen, wenn die Spielstätten in diesem riesigen Land über vier Zeitzonen verteilt liegen? Wenn man fast einen Tag lang reisen muss, um ins Stadion zu kommen? Logistik schlägt Romantik.

Also Watutinki, das Trainingsgelände des russischen Erstligisten ZSKA Moskau, das gleich nebenan liegt. Im Sozialismus, als der Staat das ganze Leben durchdrang, die Wirtschaft, die Kultur und den Sport, da waren auch die meisten Fußballklubs irgendwo beim Staat angedockt: Dynamo war seit Zeiten des Ministeriums NKWD der Verein des Geheimdienstes. Und ZSKA der Klub des Militärs, dechiffriert: Zentraler Sportklub der Armee. Weil diese Tradition bis heute ungebrochen ist, trainiert das DFB-Team während der WM also beim russischen Verteidigungsministerium.

Alles in allem dürfen Spieler und Trainer bei diesem Turnier wirklich davon ausgehen, dass sie gut bewacht sind und keiner verloren geht. Übernachtet wird im Gästehaus des Präsidenten. Trainiert wird beim Verteidigungsministerium. Und die Nachbarn sind Spione: In der Siedlung Watutinki befindet sich die zentrale Funkaufklärung des russischen Militärgeheimdienstes. Einfach mal ein bisschen umsehen auf dem Gelände, in dem in den vergangenen Monaten das Basislager für die Deutschen errichtet wurde, das ging deshalb auch nicht so ohne Weiteres. Anfragen wies die Hotelleitung zurück: "Wenden Sie sich direkt an den Kreml." Der teilte dann telefonisch mit, an welche Adresse man seinen Antrag auf offiziellem Briefpapier und mit rundem Stempel versehen schicken durfte - um sich nie wieder zu melden.

Eine faszinierende Reise in die Vergangenheit der Sowjetunion

Aber es gibt ja noch das Hotel auf dem Gelände. Nicht der Spa-Komplex, der gerade in letzter Minute fertig gestellt wird für die deutsche Mannschaft. Sondern hundert Schritte weiter das ursprüngliche Erholungsheim des Kremls, in dem während des Turniers die Pressekonferenzen stattfinden werden. Wer sich ein Zimmer buchte, trat eine faszinierende Reise in die Vergangenheit an: der polierte Marmor sozialistischer Prunkbauten, die holzvertäfelten Wände, der Geruch von Boeuf Stroganoff in den Fluren, die schweren Vorhänge, die kunstvoll gerafft in Wellen von der Decke fallen und verhindern, dass Tageslicht nach drinnen oder ein Blick auf Birken und Fichten nach draußen dringt. Und die obligatorischen Kronleuchter in jedem Zimmer. Dinge, die vor dreißig Jahren, in einer anderen Welt, Insignien des Luxus waren, sind heute einfach nur noch im Weg.

Dafür gibt es hier noch diese besondere Komplizenschaft zwischen Personal und Kundschaft, die im Sozialismus blühte. Wenn jedem klar ist, wie die Regeln allen das Leben schwer machen, entstehen sofort informelle Bündnisse und Netzwerke. Am Hotelpool füllt die Liste mit den Verboten eine ganze Wand, eng bedruckt. Bademützenpflicht! Nicht springen! Vorher gründlich waschen! Einmal die Woche geschlossen zu Desinfizierung. "Handtücher können Sie bei uns für 100 Rubel ausleihen", sagt die Damen an der Rezeption: "Aber wissen Sie was, nehmen Sie lieber die Badetücher aus ihrem Zimmer, die werden kostenlos erneuert."

Ein Besuch im Restaurant. Weit und breit kein Gast. Die Kellnerin in Rock und Bluse wirkt überrascht: "Essen jetzt? Aber es ist doch gerade Mittagszeit. Das Personal macht Pause." - Was ist denn mit den anderen Restaurants auf dem Gelände? - "Die mussten schließen. Die waren privat."

Oben Dienst und unten Schnaps

Das muss wohl als Begründung reichen. Und irgendwann geht einem auch auf, warum jedes Hotelzimmer mit einer kleinen Küche ausgestattet ist. In der Sowjetunion reiste man mit eigenen Konserven und Teekocher im Gepäck. So ähnlich machen es die Fußballnationalspieler ja heute auch. Wenn auch auf ganz anderem Niveau.

Vor dem Restaurant hängt im Flur die große Tafel der Ehrengäste, an der sich die Hierarchie im neuen Russland ablesen lässt: Die obersten Reihen sind Staatsmännern, Geheimdienstlern und der Kirche vorbehalten. In der Mitte das Porträt von Wladimir Putin. Immerhin ist der Präsident ja der Hausherr. In den zwei unteren Reihen sind dann die Stars des russischen Show Business versammelt um Alla Pugatschowa, die als Königin des Schlagers schon zwei Mal so lange regiert wie Putin. Oben Dienst und unten Schnaps.

Ob die deutschen Fußballer eines Tages wohl auch einen Platz in dieser Galerie bekommen werden? Wenn am 15. Juli der Schlusspfiff verklungen ist und sie ihre Koffer aus der Empfangshalle getragen haben? Und wo soll man sie dann einordnen? Da unten neben der Tänzerin Anastasia Wolotschkowa etwa? Das käme dem Sport noch am nächsten. Eher eröffnet man aber eine neue Galerie im neuen Gebäude, wo die Spieler ja auch wohnen werden. Das würde auch von der heiklen Aufgabe befreien, die deutsche Nationalmannschaft nach ihrem Verdienst um den russischen Staat und ihrer Nähe zu seinem Präsidenten zu gewichten.

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