Deutsche Tennisprofis in Wimbledon:Doch nur Sternschnuppen

  • Pünktlich zum 30. Jahrestag von Boris Beckers erstem Triumph verabschieden sich die letzten deutschen Tennisprofis aus dem Turnier in Wimbledon.
  • Statt echter Selbstkritik gibt es jedoch nur banale Erklärungen, unter anderem werden private Gründe angeführt.
  • Hier geht es zu den Ergebnissen aus Wimbledon.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Lilly Becker kommt angerannt, an der Schlange vorbei, sie schiebt sich vor das Absperrband, fragt etwas, der Sicherheitsmann grummelt. Nein, sie darf nicht rein. Noch kein Seitenwechsel. Für Lilly Becker ist das eine Qual. Sie tippelt nervös mit dem rechten Fuß, sie ruft im Sekundentakt den neuesten Spielstand auf ihrem Handy auf. Sie kann ja nicht auf den Platz sehen, dabei braucht ihre neue Freundin sie dort, absolut, so sieht es aus.

Hinter Lilly Becker fängt ein britisches Paar zu lästern an, sie wissen nicht, wer vor ihnen steht. Sie amüsieren sich über die schicke Frau in der Business-Hose. Dann sind alle erlöst. Lilly Becker darf hinunter in die Box, das Paar zieht weiter. Verhindern kann die 39-Jährige, ein in Rotterdam geborenes Model, die folgende Pleite auf Court No. 2 nicht, auch wenn sie den Hardcore-Fan gibt und fast über die Fassade kippt. Ihre Anwesenheit in diesem Moment immerhin bot eine interessante Pointe. Man musste nur aufs Datum schauen.

30 Jahre nach dem Donnerhall, für den Boris Becker als 17-jähriger Leimener im All England Lawn Tennis and Croquet Club gesorgt hatte, wurde dessen Frau Zeugin des finales Aktes an diesem pechschwarzen Samstag aus deutscher Tennissicht. Am Dienstag jährt sich dieses sporthistorische Jubiläum auf den Tag, und von Beckers Erben ist keiner im Feld, beim berühmtesten Turnier weltweit. Dabei gehörten seit damals deutsche Profis fast so sehr zu Wimbledon wie Erdbeeren und Pimm's. Erstmals seit 2006 ist der Deutsche Tennis-Bund (DTB) bei den Frauen und Männern nun nicht in der zweiten Woche vertreten.

Generationen von Germanen wissen, was hinter dem Kürzel SW 19 steckt

Der Stimmungsabfall, den die Gattin des heutigen Trainers von Novak Djokovic in Person vorlebte, passte jedenfalls ins Bild. Sabine Lisicki, 25, die umjubelte Bum-Bum-Bine-Finalistin von 2013, war chancenlos geblieben gegen die clevere Schweizerin Timea Bacsinszky, 3:6, 2:6 - nur fünf Asse waren ihr geglückt, vor kurzem hatte sie noch einen Weltrekord aufgestellt, 27 Bum-Bums in einem Match, das gab es noch nie. Damit war am späten Samstag auch die letzte der fünf in Runde drei verbliebenen Deutschen ausgeschieden, jedes Wort bei Lisicki später entsprechend eine Pein, für sie, auch für die Zuhörer.

Sie konnte das "alles nicht erklären", also erklärte sie nichts. Wie Angelique Kerber, die kaum den Blick hob, vor Erschütterung. Der Kielerin, tatsächlich Weltranglisten-Zehnte, also eine Branchengröße, fiel nur ein, sie habe sich nichts vorzuwerfen nach der Dreisatzniederlage gegen die Spanierin Garbine Muguruza. Sie habe alles gegeben. Banal-Erklärungen, die bei Andrea Petkovic mal wieder nicht reichen werden. Sie hatte am Freitag den unerfreulichen Reigen eröffnet, zuerst im Match gegen die Kasachin Zarina Diyas geweint, dann auf der Pressekonferenz. Private Gründe setzten ihr zu, sagte sie, sie bitte, nicht ins Detail zu gehen. Weg war sie.

"Frustrierend, ja", so nannte Barbara Rittner die Lage in ihrem Fachgebiet, die Bundestrainerin der Frauen durfte ihr Fazit indes auch auf die Männer gemünzt sehen. Selten stürzte die deutsche Gemütswelt derart jäh binnen 24 Stunden ab, in Wimbledon, wo die Deutschen, verglichen mit anderen Grand-Slam-Turnieren, oft ihre besten Resultate erzielt hatten. Nicht nur wegen Lillys Gatten.

Brown ist der Gewinner

Becker hatte dreimal gewonnen, Michael Stich einmal, Steffi Graf siebenmal. Rainer Schüttler (2008), Tommy Haas (2009) und Kerber (2012) standen im Halbfinale, Philipp Kohlschreiber (2012) und Florian Mayer im Viertelfinale (2004/2012). Auch einer wie Patrik Kühnen sorgte für Furore, als er 1988 Jimmy Connors in fünf Sätzen bezwang, solche Erfolge nahm Schwarz-Rot-Gold nebenbei mit, so war das in den Blütezeiten, die lange währten an der Church Road. Generationen von Germanen wissen seitdem, dass der Bezirk im Südwesten Londons das Kürzel SW 19 hat.

Lisicki und Wimbledon, das war die jüngste ureigene Erfolgsvariante, sechs Starts, fünfmal im Viertelfinale, ein Halbfinale (2011), dazu das Finale 2013 und dabei die berühmten Tränen auf dem Centre Court, noch ehe das Match vorbei war gegen die Französin Marion Bartoli. "Die war heute nicht wirklich da", flüsterte Lisicki, angesprochen auf ihre doch so oft gerühmte Wimbledon-Aura, die sich völlig verkrümelt hatte. Die Fallhöhe in ihrem Fall und grundsätzlich im deutschen Tennis ist zweifellos hoch. Sie wäre noch höher, hätte nicht ein Rastamann aus Winsen an der Aller für ein Zwischenspektakel gesorgt.

"Es war großartig", fasste Dustin Brown seine turbulenten Tage zusammen, drei Siege in der Qualifikation, der Viersatz-Scoop gegen Rafael Nadal in Runde zwei, Glückwünsche vom selbsternannten "Tennis-Commissioner" John McEnroe, Termine am Fließband, kaum Schlaf. Wie auch, er musste pausenlos erklären, wieso er als Deutscher wie Bob Marley aussieht (der Vater ist aus Jamaika), wie sein Leben auf der Tour im Campingbus war, wie ihm der Triumph gegen den 14-maligen Grand-Slam-Champion gleich einen Sponsor fürs nächste Match brachte und warum er unorthodox Tennis spielt und tausendmal ans Netz stürmt. Gegen Viktor Troicki trug er dann den neuen, ein wenig Geld bringenden Aufnäher, er unterlag dem Serben 4:6, 6:7 (3), 6:4, 3:6.

Trotzdem, sagte Brown, hätte er "sofort das Papier vorher unterschrieben, wenn mir jemand versichert hätte, so weit zu kommen". So ordnete er die Wertigkeit seines Drittrundeneinzugs ein. Er ist aus deutscher Sicht der Gewinner dieser 129. Championships - neben Tatjana Maria, 27, die als Mutter Runde drei erreichte, und Alexander Zverev, 18, der sein erstes Fünfsatzmatch gewann. Der 30-jährige Brown kassierte 108 000 Euro, aber weil er, eher ein Doppelspezialist (zwei Titel), als 102. der Einzelweltrangliste in anderen Dimensionen denken muss, ist dieses Preisgeld eine Rücklage. "Manchmal sehen das die Leute nicht, dass einer wie ich ein Challenger in Rom spielt, erste Runde, du erhältst 300 Euro minus 30 Prozent Steuern", rechnete Brown vor und ergänzte schlagfertig: "Man kann ja mal gucken, was ein Flug von Frankfurt nach Italien kostet."

Das also waren die Pole in Wimbledon. Hier Brown, der Selfmade-Profi, der kein DTB-Zögling war, der glaubwürdig über Themen wie Rassismus spricht, weil er selbst ein Opfer ist, früher wie heute. Am Samstag brach er von London nach Köln auf, mit Rot-Weiß spielte er in der Bundesliga gegen Blau-Weiß Krefeld; den Italiener Luca Vanni besiegte er 6:3, 6:3.

Auf der anderen Seite die in Watte gepackten deutschen Frauen, die seit Jahren die Männer übertrumpfen und selbst keine Kritik fürchten müssen, wenn sie wie bei der Fed-Cup-Halbfinalpleite in Russland ein historisches Heimfinale auf fragwürdige Weise verpassen, fröhlich bis in die Nacht zechen und das öffentlich machen. Einzig Philipp Kohlschreiber ist ein verlässlicher Spitzenprofi bei den Herren, der das Pech hatte, gleich zum Auftakt auf Titelverteidiger Novak Djokovic zu treffen.

Kerber, Lisicki, Petkovic hatten eine bessere Auslosung, die drei sind auf der WTA-Tour oft vorne dabei, Kerber gewann 2015 drei Turniere. Doch bei den Grand Slams geht der Trend Richtung Sternschnuppen-Format. "Die Mädels müssen einen Weg finden, mit Druck besser umzugehen", sagte Rittner: "Sie sollten die Matches mehr genießen und sich darauf freuen, das zu zeigen, was sie können." Auf der großen Bühne sind sie diesen Beweis wieder schuldig geblieben. Bezeichnenderweise kassierte eine ganz andere das dickste Lob der Wimbledon-Edition 2015. "Sie ist süß und engagiert", schwärmte Rittner von Lilly Becker.

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