Taktik bei der WM:Fußball im Anti-Guardiola-Stil

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Mit langen Bällen auf Arjen Robben zum Erfolg: die niederländische Nationalmannschaft bei der WM

(Foto: AFP)

Wer gewinnt: Ballbesitz- oder Konterfußball? Das ist die große Frage bei der Fußball-WM in Brasilien. Welche Konsequenzen hat das Klima auf die Spielweise? Und welche Lehren zieht Bundestrainer Löw vor dem Spiel gegen Portugal daraus? Gedanken zur Taktik.

Von Thomas Hummel, Salvador

Als die deutsche Mannschaft am Sonntag ihre Trainingseinheit in der Arena Fonte Nova absolvierte, hatte sich der Regen gerade verzogen. Plötzlich knallte die Sonne von einem blauen Himmel herunter, es war kurz nach zwölf Uhr mittags. Zwei Vögel riefen sich etwas zu, was gut zu hören war in dem leeren Stadion. Die beiden saßen auf einer Verstrebung der Dachkonstruktion, natürlich im Schatten. Es wäre nicht verwunderlich, hätten sie in Vogel-Sprache gekrächzt: "Schau mal diese seltsamen Wesen an. Die turnen in der Sonne. Von welchem Planeten die wohl kommen?"

Die Turnenden kommen vom Planeten Deutschland, wo derzeit ebenfalls häufig die Sonne strahlt. Wo allerdings die Luftfeuchtigkeit selten auf Hallenbad-Niveau liegt und professionelle Fußballspiele nie zur Mittagszeit ausgetragen werden. In Salvador da Bahia aber muss die Nationalmannschaft zu ihrem ersten, brisanten Gruppenspiel bei der Weltmeisterschaft um 13 Uhr raus auf den Platz.

"Es ist feucht, es ist warm", erklärte Joachim Löw, "wir müssen auch die Mittagsanstoßzeit berücksichtigen." Da dies seit der Auslosung im Dezember absehbar war, hatte die deutsche Mannschaft lange Zeit, sich darauf einzustellen. "Das ist seit Tagen für uns kein Thema mehr. Wir lamentieren nicht, wir müssen das annehmen und sind auf das Wetter gut eingestellt."

Doch welche Konsequenzen hat das Klima auf die Spielweise? Kann die DFB-Elf ihren Spielstil, der auf Ballbesitz und Kontrolle angelegt ist, auch in Brasilien beibehalten?

Schon in den ersten Spielen dieser Weltmeisterschaft deutet sich die Fortsetzung einer Debatte an, die gerade die deutsche Fußballwelt in dieser Saison beschäftigte: der Wettstreit zwischen Ballbesitzfußball und Konterfußball. Das Spiel Deutschland gegen Portugal ist prädestiniert für ein weiteres Kapitel dieses Duells. Löws Elf behält gerne den Ball und spielt sich strukturiert und flach nach vorne. Portugal hat mit Cristiano Ronaldo den besten Konterspieler der Welt und nach Rechnung des DFB-Trainerteams zehn der vergangenen zwölf Tore nach Schnellangriffen erzielt.

Kommt das feucht-heiße Klima den Portugiesen in ihrer Spielweise entgegen?

Das Spiel Spanien gegen die Niederlande am Freitag in demselben Stadion stützt diese These. Die Spanier passten in der ersten Hälfte wie immer den Ball durch ihre Reihen und versuchten so, die Löcher in der gegnerischen Abwehr zu nutzen. Die Niederländer verteidigten allerdings mit fünf Abwehrspielern und zwei Abräumern im Mittelfeld, weshalb sich kaum ein Loch auftat.

Ballbesitz und lange Passfolgen erfordern von den Spielern enorme Konzentration, ein Verlust der Kugel kann schnell zum fatalen Gegenstoß führen. Louis van Gaal sagte nach dem Spiel: "Ich bin ein Experte: Sie passten den Ball untereinander, aber es ist sehr schwer, so gegen eine gute Defensive zu spielen. Du kannst nicht schnell spielen, weil wir so kompakt stehen."

Nach der Pause ging der Weltmeister im orangefarbenen Konterwirbel unter. Van Gaals Strategie führte zu dem bis dahin ungekannten Debakel eines Titelverteidigers. "Wir haben alles falsch gemacht", klagte Xavi. Die Spanier verloren im Mittelfeld die Bälle, waren dann so schlecht gestaffelt, dass kein Druck mehr auf den ballführenden Niederländer möglich war. Es folgten lange Pässe auf Arjen Robben und Robin van Persie, die mit ihrer Schnelligkeit und Klasse die spanische Abwehr der Lächerlichkeit preisgaben.

Viel Spektakel ohne Kontrolle

Am Ende hatten die Spanier etwa 65 Prozent Ballbesitz, verloren aber 1:5. Es erinnerte stark an das 0:4 des FC Bayern im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid.

Hat die Schwüle den Spaniern zusätzlich zugesetzt? Hat ihr ewiges Passspiel in der ersten Hälfte zu viel Kraft gekostet?

Das auf Mittelfeldspiel angelegte System der Spanier ist bei der Weltmeisterschaft nicht in Mode. Viele Mannschaften versuchen, die Abwehr mit fünf bis sechs Spielern zu bilden, um dann die Angriffe über die frischen Offensivleute schnell zum Abschluss zu bringen. In vielen Partien geht es phasenweise wild hin und her ohne erkennbares Mittelfeldspiel. Bayern-Trainer Pep Guardiola dürfte sich pikiert abwenden, bei so viel Spektakel ohne Kontrolle.

Paradoxerweise klingt vieles aus dem deutschen Lager nach einem ähnlichen Plan. Mit Benedikt Höwedes, Mats Hummels, Per Mertesacker und Jérôme Boateng stellt Bundestrainer Löw vier Innenverteidiger in die Abwehr. Ausflüge der Außenverteidiger dürften selten sein. Philipp Lahm soll vor der Abwehr zusammen mit Sami Khedira die Sicherheitsposten übernehmen: Bleiben vier Spieler in der Offensive mit dem Auftrag des Torerfolgs.

Da hat Löw jahrelang die Ballkontrolle gepredigt, doch nun reden einige vom Vorbild Real Madrid. Das Ziel ist eine Anpassung des eigenen Stils an die Bedingungen. Pressing ist erlaubt, aber nur wenige Sekunden, dann muss sich die Mannschaft zurückfallen lassen, um Kräfte zu sparen. Außerdem soll das famose Umschaltspiel von der WM 2010 wiederbelebt werden, um die Angriffe schnell ins Ziel zu bringen.

Doch ist das überhaupt möglich mit Guardiolas auf Ballbesitz geeichten Spielern aus München?

Immerhin eine Mannschaft gab es bislang bei der WM, die mit ihrem europäischen Kurzpassspiel zum Erfolg kam. Und das im tropisch feucht-heißen Manaus: Italien schlug England 2:1. Andrea Pirlo passte 108 Mal, Daniele De Rossi 106 Mal. Allerdings hätte das alleine keinen Sieg gebracht, die Italiener wirkten in ihrem Ballgeschiebe oft ziellos und hatten Glück, dass die Engländer ihre Konter nicht ebenso genial abschlossen wie Robben und van Persie. Italien wurde nur dann gefährlich, wenn sich ein paar Mittelfeldspieler aufmachten, um den einzigen Stürmer vorne im Strafraum zu unterstützen. Das kam sehr selten vor, aber doch oft genug, um zwei Tore zu erzielen.

Die Portugiesen dürften sich in ihrer Taktik bestätigt fühlen. Trainer Paulo Bento kündigte bereits an, die Taktik aus dem EM-Spiel 2012 in Lemberg wiederholen zu wollen, als Portugal mit eben dieser Kontertaktik die Deutschen am Rande der Niederlage hatte und nur unglücklich 0:1 verlor. Alles andere als ein Abwehrriegel plus schnelle Pässe auf Cristiano Ronaldo wäre eine große Überraschung. Löws Spieler dürfen also entweder keine Bälle verlieren, oder sie müssen darauf mit sehr gutem Gegenpressing reagieren. Sonst wird der Ballbesitzfußball am Montagmittag in Salvador weiter an Reputation verlieren.

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