Deutsche Sportler-Schicksale:Schunkel. Gluckgluck

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Zu Besuch bei drei deutschen Athleten, die 2016 nicht alle Erwartungen erfüllt - aber viel gelernt haben über ihren Sport und ihr Land.

Von Claudio Catuogno, Thomas Hahn und Johannes Knuth

Ein altes Metallschild mit roter Schrift, irgendwann vor Jahrzehnten in die weißen Kacheln geschraubt: "Das Essen und Trinken, insbesondere das Kaugummi-Kauen, ist im Trainingsbad untersagt." An dem Schild kommt Marco Koch immer auf dem Weg zu den Duschen vorbei. Das Hallenbad an der Heinrich-Fuhr-Straße in Darmstadt, von außen sieht man nur die beschlagenen Scheiben, drinnen scheint irgendwann in den 1980er-Jahren die Zeit stehen geblieben zu sein. Gerade ist Wasserball-Training, Jugend männlich.

Der Brustschwimmer Marco Koch, 26, ist Weltmeister und Weltrekordhalter, aber dass jetzt alle durchdrehen, weil er an einem Montagabend Ende Dezember die Halle betritt, kann man nicht gerade behaupten. In der Badehose sind alle gleich, und die Haartrockner im Foyer sind hier auch alle gleich klapprig. Was aber, wenn Marco Koch jetzt auch noch Olympiasieger wäre? OLYMPIASIEGER?

Koch drückt eine schwere Holztür auf, dahinter liegt eine Art Hausmeisterkammer. Ein Gespräch über Erwartungen, vor allem über enttäuschte. Wenn jetzt überall auf die "Höhepunkte des Sportjahres" zurückgeblickt wird, wenn Athleten Bambis und andere Statuen bekommen, weil sie ihr Publikum "zu Tränen rührten" - dann ist Kochs olympisches Finale nicht dabei. Platz sieben über 200 Meter Brust, am 10. August in Rio de Janeiro, das ist seine Geschichte des Jahres 2016. Nur Platz sieben. Als Goldfavorit! Im Sport, wo die härteste Währung immer noch Medaillen sind, nennt man das wohl: scheitern.

Wie nennt er es? "Scheitern", sagt Marco Koch, "nenne ich es sicher nicht."

Bis zu jenem Dienstag im April wusste Kristina Hillmann gar nicht so genau, was das ist, ein Rückschlag. Sie hatte eine Karriere als Hockey-Aufsteigerin hinter sich, beim Bundesligisten UHC Hamburg und im Nationalteam. Sie spielte lange mit dem Mut der Jugend, und als sie 2012 überraschend einen Platz im Olympia-Team für London bekommen hatte, mit 20, war das ein Glück, das sie durch die folgenden vier Jahre trug. Trainieren, spielen, die Ausbildung zurückstellen. Alles für die Spiele in Rio.

Jener Dienstag. Es war nach ihrem 122. Länderspiel, einem 0:2 gegen Großbritannien. Bundestrainer Jamilon Mülders kam auf ihr Zimmer und sagte: "Ich nehme dich raus aus dem Rennen für Olympia."

Kristina Hillmann, 25, ist eine leise, lichte Person. Sie kommt mit dem Rad. Mit ihren hellblonden Haaren wirkt sie im grauen Hamburger Dezember-Licht wie eine kleine Sonne auf zwei Beinen. Und im Gespräch zeigt sie keine Furcht vor der eigenen Schwäche. Sie weiß schon, dass es was Schlimmeres gibt als eine Niederlage im Sport. Vor ein paar Jahren war ihre Mutter schwer krank, das hat sie geprägt. Aber gibt es nicht auch ein Recht darauf, die persönlichen Niederschläge auf den Nebenschauplätzen des Lebens als Tragödien zu empfinden? Mama Hillmann ist wieder gesund geworden. Zu der kleineren Geschichte der Nichtnominierung hingegen gibt es kein Happy End.

Als der Bundestrainer Kristina Hillmann überraschend früh und als Erste aus dem Olympia-Kader nahm, war das, als reiße er die Wolken weg, auf denen sie vorher immer durch ihr Hockey-Leben geschwebt war. Der Aufprall war hart. Wenn Hillmann heute über die Unterredung mit Mülders spricht, klingt sie wie ein Unfallopfer, das erst allmählich zur Besinnung kam. Mülders machte keine Umschweife. Er sagte den Satz, der all ihren Bemühungen um die Olympia-Teilnahme ein Ende setzte. "Und ab dann weiß ich nicht mehr viel."

Manche Bilder, die Christoph Harting von seinem Olympiasieg im Gedächtnis trägt, sind mittlerweile verblasst, versengt von der Hitze der Emotionen. Er weiß noch, dass er dieses Diskusfinale von Rio de Janeiro im Grunde vor seinem letzten Versuch gewann - als das Gefühl für den siegbringenden Wurf bereits in ihn hineinsank, und er es später nur anknipsen musste wie einen Lichtschalter: "Ich wusste, der Wurf passt. Nicht: Du musst jetzt, nein, der passt." Der Wurf passte dann tatsächlich. Nur an die Bilder danach, die für so viel Aufregung gesorgt haben, kann er sich heute kaum erinnern. Als hätte man eine Löschtaste gedrückt. Es waren jene Momente, in denen viele Christoph Harting plötzlich für den größten Verlierer des Tages hielten.

"Du bist in dem Moment nun mal so, wie du bist": Diskus-Olympiasieger Christoph Harting. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Harting, 26, hat seinen Lieblingsitaliener in Berlin-Lichtenberg als Treffpunkt benannt, er empfiehlt die Spareribs, "danach siehste aus wie Sau", sagt er, "sind aber saulecker". Dann erzählt Harting, wie er erst einmal scheitern musste, bevor er erfolgreich werden konnte.

Vor drei Jahren war er mit seiner Trainingsgruppe zu Torsten Lönnfors gezogen, zusammen mit seinem Bruder Robert und dessen heutiger Frau Julia. Christoph hatte erstaunliche Anlagen, aber wenig Erfolg. Er warf wie die meisten - doch das Gewöhnliche bekam ihm nicht. Harting ist 2,06 Meter groß und knapp 120 Kilogramm schwer, er ist damit leichter und schnellkräftiger als die meisten. Er schlug seinem Trainer einen Technikumbau vor: Nach dem Abwurf wolle er umspringen und weiterdrehen, anstatt im Stütz zu verharren. So könne seine Schnelligkeit besser in den Wurf fließen. "Ich habe damals gesagt: Wir werden 2014 völlig verlieren. Wir werden so hadern damit, dass wir weder das eine noch das andere gut können. 2015 wird's halbwegs sitzen. 2016 sitzt es." Keine Angst vor den Niederlagen, weil sie einen dem Ziel näherbringen sollen? Harting sagt: "Mein Trainer und ich haben einen Vorteil: Für uns ist der Sport ein Beruf, keine Berufung. Wenn du zu emotional an die Sache rangehst, verlierst du irgendwann den Blick fürs Wesentliche."

Marco Koch weiß noch, dass er sein Hotelzimmer irgendwann nicht mehr sehen konnte in Rio, er wollte raus auf den Startblock, "endlich loslegen". Zweifel? "Hatte ich keine." Das Rennen fühlte sich gut an. Jede Wende getroffen. Einteilung in Ordnung. Am Ende tat es weh, aber das gehört dazu. Goldfavorit! "Ich habe angeschlagen", erzählt Marco Koch nun, vier Monate später, "ich habe die Zeit gesehen, und mein erster Gedanke war: Irgendwas stimmt hier nicht. Tja, und ein paar Tage später habe ich dann eben das mit der Strömung erfahren."

Strömung? Marco Koch weiß schon, dass das jetzt wie eine jener Ausreden klingen kann, mit denen sie im nicht sehr erfolgsverwöhnten deutschen Schwimmen schon oft ihre Misserfolge erklärt haben. Wasser zu hart, Wasser zu weich, Brille beschlagen. Andererseits: Als er die Berechnungen des Magazins Swim gelesen hatte, da passte plötzlich alles zusammen. Die unerklärlich schwachen Zwischenzeiten auf der zweiten und der vierten Bahn - nicht nur bei ihm, sondern bei vielen Startern, die wie er ganz außen schwimmen mussten, auf Bahn eins. Es muss da irgendwelche Verwirbelungen gegeben haben. Wie auch schon bei der WM 2013 in Barcelona übrigens, wo der Pool vom gleichen Hersteller kam wie in Rio. "Trotzdem unfassbar", sagt Marco Koch. "Bei Olympia!"

Ist das für ihn jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht? "Was mich stört", sagt Koch: "Die Zeit, die da jetzt steht, die fühlt sich einfach nicht richtig an." 2:08,00 Minuten. Fast eine Sekunde langsamer als geplant. Andererseits hat er jetzt wenigstens eine Erklärung.

Nach Rio hat Koch erst mal weitergemacht wie bisher, weiter Wettkämpfe schwimmen, auch aus ermittlungstaktischen Gründen. Er wollte Beweise sichern, dafür musste er weiter in seinen Körper hineinfühlen. "Nein, wir haben nichts falsch gemacht in der Trainingssteuerung", da waren er und sein Trainer sich schließlich sicher. Vielleicht hat sich eine alte Schulterverletzung noch ausgewirkt, und Pfeiffersches Drüsenfieber hatte er in der Vorbereitung ja auch mal gehabt zwischendurch. Dazu noch Bahn eins. "Aber auf jeden Fall", sagt Marco Koch, und er muss das auch im Dezember 2016 noch betonen: "Auf jeden Fall war ich nicht zu dick."

Ein Nein im Hockey hat größere Folgen als zum Beispiel ein Nein im Fußball. Fußball ist Profisport, für die Besten ist die Nationalmannschaft dort nüchtern betrachtet so etwas wie ein viel beachteter Zweitjob. Wenn ein Fußballer die Nominierung zu einer WM verpasst, ist das schade für ihn, aber er kann immerhin Urlaub machen, um wenig später in seine hoch bezahlte Anstellung bei seinem Verein zurückzukehren. Aber Hockey ist Amateursport. In den Klubs gibt es wenig zu verdienen, die Besten studieren oder arbeiten. Nationalspieler zu sein, ist so etwas wie ein Full-Time-Nebenjob. Und nur wer im Olympiakader steht, ist qualifiziert für die Zuwendungen aus den Töpfen von Stiftungen und öffentlich geförderten Initiativen. Durch Mülders' Nein verlor Kristina Hillmann von einem Monat auf den nächsten ihre Ansprüche bei der Sporthilfe und als Team-Hamburg-Mitglied. Ihre Sportwelt zerbrach: die Förderung, das große Ziel, die tägliche Leistungssport-Routine, der Terminkalender mit Lehrgängen und Länderspielen auf der ganzen Welt - alles plötzlich weg.

Ihr Freund, selbst Hockeyspieler, ist ihr damals eine Stütze gewesen. Trotzdem spürte sie eine Leere in sich und um sich herum. "Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergeht. Ich hatte ja auch nichts, wo ich mich reinstürzen konnte", sagt sie. Im Physiotherapie-Studium, das sie aufgenommen hatte, weil ihr 1,7-Abitur nicht gut genug war für den Medizin-Numerus-clausus, hatte sie wegen Olympia ein Urlaubssemester eingelegt. "Ich habe mich dann ein bisschen geflüchtet." Sie nahm zwei Jobs an, einen in der Eisdiele des früheren Schwimmweltmeisters Markus Deibler, den sie kreativ und anregend fand. Und einen im Lager eines Kaufhauses. Waren etikettieren, stundenlang. "Da steht man dann. Die anderen bereiten sich in Argentinien auf Olympia vor - und du etikettierst." Nach drei Wochen schalteten sich die Eltern ein. Schluss mit Lager. "Da habe ich wieder angefangen, klar zu denken."

Hockey-Nationalspielerin Kristina Hillmann: Als der Bundestrainer sie überraschend früh und als Erste aus dem Olympia-Kader nahm, war der Aufprall hart. (Foto: imago)

Den Morgen vor dem Finale in Rio hielt Harting so gewöhnlich wie möglich. Er trank mit der Familie Kaffee, irgendwann sagte er: "Muss mal kurz zum Sport." Dann gewann er. Dann kam die Siegerehrung. Harting verschränkte die Arme bei der Hymne, schunkelte, pfiff. Später, bei der Presserunde, sagte er, er sei "kein Medienhengst", er beantworte ungern Fragen. In den sozialen Netzwerken schwoll die Empörung an. Harting sei arrogant, peinlich. Der verletzte Weitspringer Sebastian Bayer schrieb: "Sorry, aber dann würde ich lieber auf diese Medaille verzichten."

Der Sport zelebriert gerne seine Bilder, zum Beispiel wenn Robert Harting, der Bruder, sich nach seinen Siegen das Trikot zerreißt. Aber eigentlich sollen deutsche Sportler immer schön glatt sein, sie sollen regelkonform gewinnen, in jeder Hinsicht, auch im Triumph. Vor allem bei der Hymne. Singen: ja. Wer schweigt, der reibt sich nicht auf für sein Land. Aber wer auf dem Podium schunkelt, entweiht den Moment. Harting, so sieht er das, war in diesem Moment halt mal nicht der öffentlich geförderte Bundesdiskuswerfer, er war einfach Christoph Harting, der sich davontragen ließ in den Nebel seiner Gefühle. Am nächsten Tag sagte der neue Olympiasieger: "Wem ich auf den Fuß getreten bin: Tut mir leid, war nicht so gemeint."

Die Schuldfrage. Die hat Kristina Hillmann hin und her gewälzt. "Sicher wäre es einfacher gewesen, wenn ich nicht selbst dran schuld gewesen wäre." Aber sie hat keinen anderen Schuldigen finden können. Dem Bundestrainer macht sie keinen Vorwurf, sie weiß, dass sie vor der Ausmusterung nicht auf der Höhe ihrer Kunst spielte. Die Voraussetzungen waren allerdings auch nicht günstig. Mülders wollte, dass sie im Sturm spielt, obwohl sie beim UHC im Mittelfeld die Fäden zog. Die Positionen sind grundverschieden. Im Sturm sind Instinktschützinnen gefragt, die ihre Chance erwarten können. Im Mittelfeld arbeiten die feingeistigen Ausdauerleister, die den Takt des Spiels bestimmen. Wäre sie nach Rio gekommen, wenn Mülders sie im Mittelfeld eingesetzt hätte? Müßige Frage. Nur eines kann sie sagen: "Ich war in einem Konkurrenzkampf, in den ich nicht meine größten Stärken einbringen konnte."

Wenige Wochen nach ihrem Olympia-Aus gewann Kristina Hillmann mit dem UHC die deutsche Meisterschaft. Sie spielte im Mittelfeld. Sie spielte sehr gut.

Warum geht einer als Kind zum Schwimmtraining? Um irgendwann Olympiasieger zu werden? Bei Marco Koch klingt es fast so. "Ich war immer schon verrückt genug, mir vorzustellen, ganz vorne dabei zu sein. Ich hab' mir schon mit zwölf ausgerechnet, um wie viel ich meine Bestleistung dafür jedes Jahr steigern muss." Mit 13 zog er mit der Mutter und dem Bruder aus dem Odenwald-Städtchen Michelstadt nach Darmstadt, des Schwimmens wegen. Auf der 200-Meter-Bruststrecke war er fast immer der Schnellste. Deutscher Meister. WM-Silber 2013. Europameister 2014. Weltmeister 2015. Und im Olympiajahr, klar: Goldfavorit. "Das stand überall", sagt Koch. "Eigentlich konnte ich da nur noch verlieren. Wenn ich gewinne, heißt es: Okay, war ja so geplant." Was es heißt, wenn er Siebter wird, war ihm auch gleich klar. Abgesoffen. Baden gegangen. Titanic. Gluckgluckgluck.

Die Frage, für wen einer seinen Sport macht, hilft auch beim Umgang mit Enttäuschungen. Marco Koch sagt, er selbst habe sich in seinen Tagträumen nie dort oben auf dem Podium stehen sehen, bei der Siegerehrung. Er weiß nicht mal, wo seine Medaillen eigentlich rumliegen: "Um Medaillen ging es mir nie." Koch stellt sich immer nur das perfekte Rennen vor. Manchmal steigt er im Training aus dem Becken und denkt: "So fühlt sich das also an, wenn einfach alles stimmt." Dafür schwimmt er. Und in Rio stimmte dann halt eine Menge nicht. Trotzdem: "Ich kann mir persönlich nichts vorwerfen." Aber so einfach ist das natürlich nicht mit den Erwartungen, wenn man im deutschen Sportsystem als Medaillendienstleister gebraucht wird. Daran, ob Koch gewinnt oder nicht, hängen Fördergelder für den Schwimm-Verband, vielleicht muss ein Stützpunkt geschlossen werden, wenn er nicht liefert. Es gibt außer ihm ja gerade keinen anderen deutschen Schwimmer mit Olympiasieger-Potenzial. Solche Erwartungen können einen lähmen. Marco Koch sagt: "Das ist mir alles egal." Es muss ihm egal sein.

Christoph Harting sagt, er habe diesen Zwiespalt nie an sich herangelassen: dass er als Olympiasieger geprügelt aus der Arena ging. Er habe viel gelacht, "weil so viel Unwahres geschrieben wurde", über angebliche Disziplinarverfahren seines Arbeitgebers, der Bundespolizei. Viele, die ihn heute auf der Straße erkennen, bestärken ihn. Endlich einer, der aus dem Gewöhnlichen ausbricht, sagen sie. Und der Rest? "Ich habe Verständnis dafür, dass die Leute so denken. Was ich gemacht habe, passt in keine gesellschaftliche Norm", sagt er. "Du bist in dem Moment nun mal so, wie du bist. Aber das ist Deutschland. Wenn wir nichts zu meckern haben, geht es uns schlecht." Und je länger man ihm zuhört, fragt man sich, was die Kritik über Harting erzählt - und was über die Kritiker. Als die deutschen Journalisten kürzlich die Sportler des Jahres kürten, schaffte es Harting, der Olympiasieger, nicht mal unter die besten Zehn.

Was mich stört", sagt Schwimm-Weltmeister Marco Koch: "Die Zeit, die da jetzt steht, die fühlt sich einfach nicht richtig an." 2:08,00 Minuten. Fast eine Sekunde langsamer als geplant. (Foto: Christophe Simon/AFP)

In der Dunkelheit seiner Enttäuschung nahm Marco Koch nach Olympia erst mal zwei Kilo zu. Dann: 13 Kilo ab. In sechs Wochen. Radikal-Diät. Er wollte das mal ausprobieren, neue Reize setzen, nach Olympia kann man sich das trauen. Im November schwamm Koch dann einen Weltrekord auf der Kurzbahn. Und natürlich kam die Frage wieder auf: War er in Rio doch zu dick? Sogar der Chefbundestrainer hat das so angedeutet. Ein Chefbundestrainer steht halt auch unter Druck, wenn keiner seiner Athleten aufs Podest schwimmt, er muss Erklärungen liefern, und im Zweifel sind dann halt die anderen Schuld. Dabei war Koch in Rio gar nicht schwerer als ein Jahr vorher bei seiner Gold-WM in Kasan. "Vor Olympia Diät zu machen, wäre Wahnsinn gewesen", sagt er heute, "das kann dermaßen nach hinten losgehen." Die Wahrheit ist immer sehr komplex in diesem Körperoptimierungsbetrieb, aber vermeintliche Speckröllchen um die Hüften geben die griffigeren Schlagzeilen. Nein, in der Badehose sind doch nicht alle gleich.

Vier Jahre hat er jetzt wieder zum Tüfteln. Bis zu den Spielen 2020 in Tokio. Marco Koch sagt: "Egal, ob da eine Strömung ist, ob mir auf dem Startblock noch einer die Beine zusammenbindet und es außerdem Haie gibt auf meiner Bahn - das muss mir alles egal sein, so gut vorbereitet will ich dann sein." Weiter, immer weiter. Das Mantra des Leistungssports.

Marco Koch hat dieses Wort zu verabscheuen gelernt - aber er will auch 2020 in Tokio wieder der Goldfavorit sein.

Als Christoph Harting einmal beschreiben sollte, wie es sei, einem goldbehangenen Bruder nachzueifern - Robert, dem Weltmeister 2009, '11 und '13, dem Olympiasieger 2012 -, da erzählte er eine Geschichte. "Wenn ein Vater mit seinem Sohn in den Park geht und der Kleine dann einen Baum bis zur Hälfte hochklettert, ist er der stolzeste Papa der Welt. Wenn dann ein paar Jahre später der zweite Sohn hochklettert, denkt der Vater: Na gut, habe ich schon mal gesehen." Christoph Harting musste schon oft aus dem Bekannten ausbrechen, und vielleicht erklärt das auch, warum er sich jetzt den Weltrekord aus den steroidverseuchten 1980er-Jahren vorgeknöpft hat, 74,08 Meter. Und mehr noch: 80 Meter sollen es sein! Hartings Bestweite bisher: 68,37 Meter, sein letzter Versuch in Rio.

Heute, beim Italiener in Lichtenberg, sagt Christoph Harting: "Aus meiner Sicht ist ein Ziel nicht dazu da, dass du es erreichst und dann abhakst." An einem Ziel müsse man sich abarbeiten. Und überhaupt: "Man kann im Sport nicht scheitern", sagt Harting, "wann immer man an sich arbeitet, macht man das ja Richtige." Die Bilder von seinem Olympiasieg interessieren ihn nicht mehr so sehr. "Man möchte vorwärtskommen und nicht nur zurückblicken." In seinem Sportlerleben, findet Christoph Harting, gibt es nichts zu verlieren. Es gibt nur Wettkämpfe zu gewinnen.

Das Ende dieses Jahres war vorgezeichnet für Kristina Hillmann, Olympia hin oder her. Medizin zu studieren, war ihr lang gehegter Wunsch, aber ohne 1,0- Abitur hat sie keine Chance auf einen Studienplatz in Deutschland. Das Hockeyspielen hat sie deshalb erst mal aufgeben müssen. Sie ist nach Budapest ausgewichen an die Semmelweis-Universität, die hat einen Medizin-Studiengang für Deutsche, die daheim an den festgefahrenen Einstiegshürden scheitern. Seit Herbst kämpft Hillmann also in Ungarn gegen Heimweh und Unmengen an Lernstoff, zu dem auch Ungarisch gehört. "Ich finde es Wahnsinn, dass man seinen Leistungssport aufgeben muss, weil man in Deutschland keinen Studienplatz kriegt", sagt sie etwas kraftlos. Aber sie fügt sich, geht ja nicht anders. Deshalb muss sie jetzt auch los. Weiterlernen.

Das Olympia-Aus? Mittlerweile hat sie entdeckt, dass es auch sein Gutes hatte. Sie war sehr verspannt, als sie im Kampf um Rio steckte. "Ich habe mich selber ein bisschen verloren." Als sie raus war, wurde ihr leichter. Sonne brach sich in den Tränen, und vielleicht findet Kristina Hillmann eines Tages sogar heraus, dass es so etwas gibt wie eine Schönheit des Misserfolgs.

© SZ vom 31.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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