Deutsche Nationalmannschaft:Neuers Stellvertreter auf Erden

Die langwierige Verletzung des Nationalkeepers ermöglicht einen Blick auf die neue Hierarchie im deutschen Tor: Marc-André ter Stegen hat sich als Herausforderer durchgesetzt.

Von Christof Kneer

Andreas Köpke kann sich noch gut an die erste Trainingseinheit in Brasilien erinnern. In seiner stattlichen Funktion als Bundestorwarttrainer war er eigentlich wahnsinnig unterfordert auf dem frisch angebauten Trainingsplatz im kleinen Santo André, er warf seinem Torwart Bälle hin wie einem E-Jugendlichen. Draußen am Rand drängelten sich die Reporter und notierten jede Bewegung dieses erstaunlich groß gewachsenen E-Jugendtorwarts, und am Ende der Trainingseinheit waren recht bedenkliche Bilder im Kasten, es gingen recht düstere Berichte in Druck. So war sämtlichen Veröffentlichungen zu entnehmen, dass Manuel Neuer keine Bälle über Hüfthöhe fing und dass er alles in allem keineswegs den Eindruck eines Torhüters machte, der in ein paar Tagen in einem Weltmeisterschaftstor stehen kann.

Neuer sei "ein Typ, der nach einer Pause schnell wieder Anschluss findet", sagt Andreas Köpke

In der Nähe dieses Tores hat Neuer sich dann im Achtelfinale mehreren Algeriern entgegengeworfen, im Viertelfinale hat er den Schuss eines Franzosen mit einer Bewegung abgewehrt, bei der er die Hände weit über Hüfthöhe trug. Und im Finale hat er dem Argentinier Higuain einen fachgerechten Bodycheck beigebracht, mit, wie man sagen kann, recht vollem Körpereinsatz. Danach hat er, ebenfalls schmerzfrei, den WM-Pokal in die Höhe gehoben, und die meisten hatten zu diesem Zeitpunkt, Mitte Juli 2014, schon wieder vergessen, dass sich Neuer im Pokalfinale, Ende Mai 2014, die Schulter ramponiert hatte. Diagnose damals: Einriss am Kapselbandapparat im Schultereckgelenk.

Neuer sei "zum Glück der Typ, der nicht so viel Spielpraxis braucht, er findet nach einer Pause schnell wieder Anschluss", sagt Andreas Köpke nun an diesem Dienstag. Gerade ist jene offizielle Bestätigung in Umlauf gekommen, die schon zu erwarten gewesen war nach den Meldungen vom Montagnachmittag. Neuer, 31, habe sich im Abschlusstraining vor dem Schalke-Spiel "einen erneuten Haarriss im linken Mittelfuß zugezogen" und sei am Dienstagmorgen in Tübingen operiert worden, meldete der FC Bayern und erteilte noch dem obersten Klubangestellten das Wort: Die Operation sei "optimal verlaufen", zitiert das Kommuniqué den Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, "und nun sehen wir gemeinsam mit unserem Kapitän nach vorne. Manuel wird uns im Januar in alter Stärke wieder zur Verfügung stehen".

Das ist tadellos nach vorne formuliert, das heißt aber natürlich auch: Die Hinrunde ist für Neuer vorbei. Bis Januar - mindestens - spielt jetzt Sven Ulreich.

Zum dritten Mal in diesem Jahr ist jetzt der linke Mittelfuß des weltbesten Torhüters defekt, nach einem ersten Eingriff im März folgte ein sehr rasches Comeback, aber im Spiel gegen Real Madrid zog sich Neuer erneut einen Bruch zu. Diesmal wurde auf eine Operation verzichtet, Neuer zwang sich zur Geduld, und manchmal haben ihn die Vorgesetzten auch freundschaftlich zwingen müssen - wie jüngst Bundestrainer Joachim Löw, der Neuer bei den WM-Qualifikationsspielen in Tschechien und gegen Norwegen das DFB-Tor vorenthielt. Dennoch hat sich Neuer am Montag erneut an seiner Problemstelle verletzt und damit gleich zwei Mannschaften den Torwart weggenommen.

Deutschland - Mexiko

Scheint von der Verletzung des Kollegen und Kontrahenten aus München zu profitieren. Nationaltorhüter Marc-André ter Stegen

(Foto: dpa)

Beim DFB werden sie nun zwei Qualifikationsspiele im Oktober und zwei Testspiele im November ohne Sankt Manu bestreiten müssen, aber nach den brasilianischen Erfahrungen gehen die DFB-Trainer fest davon aus, dass sie ihr Tor bei der WM nächsten Sommer wieder einem voll belastbaren Manuel Neuer anvertrauen können. Dennoch beruhigt es den Fachreferenten Köpke sehr, dass die Dinge auch hinter Neuer inzwischen klar geregelt sind. Der Bayern-Torwart liegt im internen Ranking so weit in Führung, dass sie beim DFB bisher keinen Grund gesehen haben, die Positionen dahinter durchzunummerieren, "aber die Fakten ergeben sich inzwischen ja aus dem Confed Cup", sagt Köpke.

In dieses Turnier sind Marc-André ter Stegen, Bernd Leno und Kevin Trapp - zumindest offiziell - als gleichberechtigtes Trio gestartet, aber inoffiziell spekulieren sie beim DFB ja schon länger mit ter Stegen als Neuers Stellvertreter auf Erden. Der Confed Cup hat diese Gedankenspiele nun quasi öffentlich beglaubigt: Deutschland gewann das Turnier mit ter Stegen als Stammtorwart. "Marc war in Russland richtig gut", sagt Köpke, "ich bin sehr froh, dass er nach seinem wackligen Start in der Nationalmannschaft angekommen ist."

Wackliger Start ist im Übrigen ein exzellenter Euphemismus: Ter Stegens erste Länderspiele waren komplexe gymnastische Übungen, bei denen er sich die Bälle mittels imposanter Verrenkungen selbst ins Tor warf. Aber beim DFB haben sie diese unerklärlichen Missgeschicke als das genommen, was sie waren: unerklärliche Missgeschicke. Köpke ist ein überzeugter Pragmatiker, an die Existenz eines DFB-Fluchs hat er nie geglaubt, er wusste immer, wen er da vor sich hat: einen überragend begabten Torwart, der Neuer am nächsten kommt. "Marc verkörpert genau das offensive Torwartspiel, das wir bei der Nationalmannschaft brauchen", sagt Köpke, "und dass er in Barcelona inzwischen die unangefochtene Nummer eins ist, gibt ihm zusätzliches Selbstvertrauen."

Bayern Munich's Jerome Boateng checks on Bayern Munich's goalkeeper Manuel Neuer after he injured his left foot during their UEFA Champions League quarterfinal second leg match against Real Madrid at Santiago Bernabeu stadium in Madrid; Neuer und Boateng

Wo tut’s denn weh? Im Champions-League-Viertelfinale bei Real Madrid erkundigt sich Jérôme Boateng (links) nach den Schmerzen im Fuß von Manuel Neuer.

(Foto: Susana Vera/Reuters)

So ermöglicht Neuers Ausfall nun einen Blick in die aktuelle DFB-Torwarthierarchie: Erst kommt Neuer, dann ter Stegen, dann das Duo Leno/Trapp, und dahinter folgt "die nächste Gruppe", wie Köpke die Kandidaten Ron-Robert Zieler, Timo Horn oder Oliver Baumann bezeichnet. Das sind immer noch genügend außerordentliche Keeper, um andere Länder vor Neid gelb, grün und vielleicht sogar gelb-grün werden zu lassen, aber zum ersten Mal seit Jahren klafft zum Juniorenbereich "eine kleine Lücke", wie Köpke konstatiert. Im Tor der U 21 findet sich derzeit kein etablierter Erst- oder Zweitligakeeper, womöglich eine Folge davon, dass erstaunlich viele Klubs im Torwartland Deutschland gerade auf ausländische Keeper setzen.

Aber eines haben alle diese Torhüter gemeinsam: Würde man sie nach ihrem Orientierungspunkt fragen, würden sie jenen Torwart nennen, dessen Mittelfuß gerade wieder gebrochen ist.

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