Deutsche Nationalmannschaft:Generation Musterschüler

Die jungen Spieler in Löws Team bringen mehr mit als rohes Talent und guten Willen. Sie haben ein eigenes Profil entwickelt - und einen Hang zur Selbstkritik.

Von Philipp Selldorf, Mailand

Noch hatte die Uhr nicht Mitternacht geschlagen, immer noch war es Dienstag, der 15. November 2016, und immer noch befand sich Julian Weigl mitten im Giuseppe-Meazza-Stadion in Mailand. Er hätte diesen Abend gern festgehalten, an dem er das erste Mal von Anfang an ein A-Länderspiel hatte bestreiten dürfen, doch man ließ ihn nicht. Die einen drängten ihn zum Aufbruch, weil der Mannschaftsbus schon den Motor angelassen hatte; die anderen nötigten ihn, über das nächste Wochenende zu sprechen.

Weigl wollte aber noch gar nicht an das Gipfeltreffen mit Bayern München denken, "Bundesliga ist morgen wieder dran", sagte er, "in mir herrschen noch die Gefühle, die zu diesem Abend gehören. Da sind sehr, sehr viele Eindrücke, die ich erst mal verarbeiten muss." Der 21 Jahre alte Dortmunder erbat sich eine Schonfrist, um ein bisschen Zeit für seine Freude am Erlebten zu haben.

Auf die Gefühle der Akteure pflegt der Spielplan des Weltverbandes - von Karl-Heinz Rummenigge neulich "der katastrophale Kalender" getauft - wenig Rücksicht zu nehmen. Der Fußball treibt die Profis von einer Verpflichtung zur nächsten, man hakt die Etappen im Eilverfahren ab, notfalls auf Kosten der CO₂-Bilanz. Die vier Köpfe zählende Leverkusener Fraktion in der DFB-Auswahl wurde schon in der Nacht mit dem Privatjet aus der Lombardei zurück ins Rheinland geflogen, damit keine Zeit bei der Vorbereitung auf das Spiel gegen Leipzig am Freitagabend verloren geht. "Die Jungs sollen im eigenen Bett übernachten", entschied Sportchef Rudi Völler. Die Extrakosten trägt der Verein.

Dabei hatte das dritte Treffen des DFB-Teams mit Italien im Jahr 2016 genug zu bieten für eine entspannte Nachlese an der Bar des Mannschaftshotels. Die Partie brachte zwar keine Tore und nicht mehr als eine Handvoll Torszenen hervor, dennoch hatte sie spektakuläre Aspekte. Man konnte sie, schon vor dem ersten Ballwechsel, schwarz auf weiß der Besetzungsliste entnehmen, auf der Namen wie Yannick Gerhardt, Julian Weigl und Leon Goretzka standen anstelle von Toni Kroos, Mesut Özil oder Sami Khedira. Während die italienische Fachpresse ein wenig gekränkt festhielt, dass die Deutschen eine improvisierte B-Elf zum Klassiker geschickt hatten, sah Joachim Löw all seine Wünsche erfüllt, die er auf diesen Abend gerichtet hatte. "Für unsere junge Mannschaft war es ein hervorragender Test, aus dem wir gute Erkenntnisse mitnehmen", sagte er.

Der Dortmunder Weigl war glücklich, dass er - in San Siro!, gegen Italien! - zur ersten Elf gehören durfte, aber er war nicht glücklich mit seiner Leistung. "Ich habe ab und an ein bisschen Lehrgeld gezahlt", berichtete er ungefragt und durchaus verschämt. Man musste zwar schon verschärft hinsehen, um vereinzelte Ballverluste und Positionsfehlerchen wahrzunehmen, aber es ist typisch für die Vertreter dieser hoch ehrgeizigen Musterschüler-Generation, dass sie sich zuerst in allen Einzelheiten kritisch beleuchten, bevor sie Komplimente entgegennehmen.

Sie geben nicht die lampenfiebrigen Debütanten

Goretzka wies Gratulationen für seinen gelungenen Auftritt zurück, indem er feststellte, dass das Spiel 0:0 ausgegangen sei, wozu also die Glückwünsche? "Dass da so gut ausgebildete Spieler nachkommen, auch mit einer guten Mentalität, das gefällt mir", bemerkte Mats Hummels. Vor allem: "Dass da eben keiner dabei ist, der irgendwie denkt, er wäre schon Weltmeister."

Leon Goretzka, 21, verantwortete an der Seite von Ilkay Gündogan das deutsche Offensivspiel, das klappte ziemlich gut, was einerseits an dem bis zum Schlusspfiff inklusive Strafraumschwalbe unablässig umtriebigen Gündogan lag, und andererseits aber auch an Goretzka, der vielseitige Eindrücke von seiner Spielfreude, Technik und Dynamik vermittelte. Den international versierten Nebenmann betrachtete er offensichtlich als Lehrherren, aber die Perspektive war nicht die des lampenfiebrigen Debütanten. Die jungen deutschen Spieler bringen mehr mit als rohes Talent und guten Willen, sie haben längst ein eigenes Profil entwickelt. Gündogan offerierte Orientierung, Goretzka nahm die Hilfen an und machte sich nebenbei selbständig.

"Man wird vorab vom Trainer eingestellt", sagte der Schalker, der Rest kommt offenbar von selbst: "Im Endeffekt verstehen wir alle was vom Fußball. Wir kommen aus den Jugend-Nationalteams, wo eine einheitliche Philosophie gefahren wird." Wenn man sich dann an die gestandenen Spieler halte, sei der Sprung in die A-Auswahl nicht mehr so groß.

Weise Deutsche von Kant bis Heidegger mögen im Grabe rotieren, wenn sie hören, dass ihre Nachfahren neuerdings die heiligmäßige Philosophie "fahren" wie ein technisches Gebrauchsmittel, aber was die zwischen Vereinen und Verband koordinierte Nachwuchsarbeit angeht, zeugt Goretzkas Begriffsschöpfung von hoher Praxistauglichkeit. Das System ist produktiv wie nie zuvor. Acht Neue feierten 2016 Premiere im Nationaltrikot, in immer schnellerer Folge komme "ein ganzer Haufen von Talenten" hinzu, staunt Mats Hummels. Jogi Löw, 56, mag sich allmählich ein wenig alt vorkommen vor seinem jugendlichen Nationalteam, aber das verkraftet er gern. "Ich schaue sehr positiv auf das nächste Jahr", verkündete er zum Abschied aus Mailand.

Wenigstens der Bundestrainer hat jetzt Zeit, innezuhalten. Bis zum Wiedersehen beim Testspiel gegen England vergehen vier Monate.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: