Deutsche Nationalelf bei der Fußball-EM:Wohin führt Schweinsteigers Schufterei?

Lesezeit: 3 min

Spaß beim Huckepack: Bastian Schweinsteiger schultert Thomas Müller (Foto: dpa)
  • Bundestrainer Löw preist Toni Kroos und Sami Khedira als Ideallösung im Mittelfeld an.
  • Wo bleibt da noch Platz für Bastian Schweinsteiger? Michael Ballack weiß es.

Von Philipp Selldorf, Évian-les-Bains

Michael Ballack verbringt seine Zeit als ehemaliger Fußballer vorwiegend mit schönen Dingen. Er sammelt moderne Kunst, besucht Ausstellungen und sondiert regelmäßig auf den großen Messen in Basel, London oder Köln den Markt. Mit seinem Sport beschäftigt er sich auch noch, allerdings vorwiegend aus der Ferne des Wohnzimmers am Starnberger See. In Évian, am gegenwärtigen Wohnsitz der Nationalmannschaft, wurde der frühere Capitano noch nicht gesichtet. Trotzdem war er dort am Wochenende ziemlich gegenwärtig. Auch der Bundestrainer redete über Ballack - wenngleich er ihn mit keinem Wort erwähnte.

Zwei Tage nach dem 0:0 gegen Polen wurden rund um die Nationalmannschaft die alten Debatten geführt. Michael Ballack hatte dazu ein entscheidendes Stichwort geliefert, als er in seiner Rolle als Experte des amerikanischen TV-Senders ESPN erklärte, der deutschen Elf fehlten "Persönlichkeit und Charakter". Diese Äußerung hat er später zwar in seiner Kolumne im Kölner Express relativiert und mit solidarischen und konstruktiven Betrachtungen versehen, aber seine Worte waren zuvor schon um die Welt gegangen und somit nicht mehr einzufangen.

Am Samstagmorgen sind sie auch bei Jogi Löw am Genfer See angekommen. Ausgerechnet an dem Tag, an dem der Coach seinen Spielern Ausgang und Freizeit gewährt hatte, erreichte ihn die Nachricht von Ballacks Verriss - dem Mann, der einst in seinem Team als Kapitän fungiert und später einen mühseligen Trennungsstreit mit ihm ausgetragen hatte. So begann Löws freier Tag in Évian, wo das Wetter wieder mal von allenfalls mäßiger Pracht war. "Wichtig ist, mal die Seele baumeln zu lassen. Wer nur Anspannung hat bei einem Turnier, der hat keine Chance, weit zu kommen", so hatte er den Urlaubstag begründet.

Zum Glück seiner Seele hat Löw die Kritik weder persönlich noch allzu schwer genommen, das Gegenteil sei der Fall: Dass er nun wieder von mangelnder Führungsqualität lese, "das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht", hat Löw behauptet, als er am Vormittag im Medienzentrum über den Stand der Dinge referierte. Dass Kritiker und Gurus in seiner Mannschaft ein straffes Kommando vermissten, das hat Löw in den zehn Jahren seiner Regentschaft als Bundestrainer schon oft gehört.

"Die Mitarbeit im Spielerrat ist sagenhaft gut"

Vor zwei Jahren hatte es die Diskussion auch schon gegeben, "dann wurden wir Weltmeister und alle diese Leute - Basti, Hummels, Müller, Neuer - waren die großartigen Leader. Jetzt spielen wir einmal 0:0 bei einem Turnier, und die Diskussion kommt wieder. Ganz ehrlich, damit ist alles gesagt", stellte Löw amüsiert fest.

Gesagt hat er dann aber doch noch etwas: dass nämlich viele seiner Spieler "großartige Führungsqualitäten erfüllen. Sie denken mit, sie kommen zum Trainer, fragen mir manchmal ein Loch in den Bauch. Diese Mitarbeit im Spielerrat ist sagenhaft gut. Die Spieler sind mündig, kritisch, sie hinterfragen Dinge. Und sie haben Großartiges geleistet."

Zu denjenigen, die am Samstag Ausgang erhielten, gehörte ausdrücklich auch der nicht nur von Amts wegen zum Führungsspieler erhobene Bastian Schweinsteiger. "Es ist wichtig, während eines Turniers manchmal auch ein wenig herunterzufahren", findet Löw, Schweinsteiger brauche die Pause, nachdem er sich während der vergangenen Wochen so hingebungsvoll ans Team herangearbeitet habe. Neulich erst hatte Löw die Fitnessarbeit seines Kapitäns als "Schufterei" gewürdigt.

DFB-Team bei der Fußball-EM
:Diese Mannschaft braucht Thomas Müller

Und zwar in all seiner Zauseligkeit und Skurrilität. Auch wenn er in den ersten beiden Spielen so verirrt, harmlos und ineffizient wirkte.

Von Christof Kneer

Was Schweinsteiger zur verordneten Freizeit meint, das dringt nicht aus dem vielseitig befestigten Hotel "Ermitage". Von ihm persönlich ist wenig zu hören. Über ihn aber wird viel gesprochen. Ballack zum Beispiel meint, dass Schweinsteiger im abschließenden Gruppenspiel gegen Nordirland "eine Option" für die Startelf sei: "Über ihn würde ich nachdenken. Mit seiner spielerischen Klasse könnte er der deutschen Mannschaft neue Impulse geben."

Dass Löw diese Anregung aufgreifen wird, darf als unwahrscheinlich gelten. Unverändert verteilt der Bundestrainer zwar allerlei Komplimente an Schweinsteiger, aber noch mehr Komplimente hatte er am Samstag für das amtierende Mittelfeldduo Toni Kroos und Sami Khedira, das er als mehr oder weniger unumstößliche Ideallösung pries. Ein Defizit an Führungsstärke im Spielzentrum vermag er schon gar nicht zu erkennen, und dabei haben ihm die beiden Vorstellungen der deutschen Mannschaft recht gegeben.

Löw will seine Mannschaft nicht umbauen

In beiden Partien musste die DFB-Elf zwar Schieflagen in der Defensive und Offensive ausgleichen, diese gingen aber am wenigsten aus der Mittelfeldzentrale hervor. Der Einbau des 31 Jahre alten Kapitäns ins Team würde Umbesetzungen in der Offensive bedingen, die dem Bundestrainer gegen einen Gegner wie Nordirland nicht opportun erscheinen.

Schweinsteiger sei "auf einem sehr guten Weg", berichtete Löw. Einstweilen weiß aber noch keiner der Beteiligten, wohin dieser Weg führen wird.

© SZ vom 19.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Termine der Fußball-EM in Frankreich
:EM 2016 Spielplan

Vom Eröffnungsspiel am 10. Juni bis zum Finale am 10. Juli 2016: Der Spielplan mit allen Begegnungen, Spielorten und Anstoßzeiten der Europameisterschaft in Frankreich.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: