EM-Splitter:Forsche Jugend

Die Deutschen begrüßen neue Talente auf der großen Bühne - und verabschieden sich langsam von einer alten Weltmeisterin. Ein Rundgang durch die ersten drei EM-Tage.

Von Johannes Knuth, Amsterdam

Anfang

Die Dienste und Pflichten einer Medaillengewinnerin? Gibt Schlimmeres, findet die Diskuswerferin Julia Fischer. Sie trägt gerade eine tiefe Zufriedenheit mit sich herum, genährt von ihrer ersten Plakette bei den Erwachsenen, der ersten Ehrenrunde, den ersten Interviews. Fischer hatte dieses Protokoll ein paar Mal im Nachwuchsbereich abgearbeitet, vor fünf Jahren war sie U23-Europameisterin. Aber so eine Silbermedaille bei einer vollwertigen EM, sagt Fischer, das ist dann doch etwas anderes. "Das ist nicht jedem Sportler in seinem Leben vergönnt".

Die nachrückende Generation im Deutschen Leichtathletik-Verband startet in Amsterdam gerade eine neue Etappe. Sie hat nicht nur mehr Lust auf Leistung, sie nimmt auch immer häufiger etwas für den Trophäenschrank mit. Nicht nur Fischer kam am Freitag zu ihrer ersten internationalen Weihe, auch Weitspringerin Malaika Mihambo, 22, und 200-Meter-Läuferin Gina Lückenkemper, 19, jeweils als Dritte. Vor allem Lückenkemper hat sich bis heute eine Unbekümmertheit bewahrt, die sich bei großen Messen in ein robustes Selbstvertrauen verwandelt. "Das ist eine ganz andere Generation", sagt ihr Trainer Ulrich Kunst. Er weiß noch, wie die deutschen Sprinterinnen sich lange im Training und Wettkampf mieden, wegen persönlicher Eitelkeiten. Heute, sagt Kunst, "wollen die ganz bewusst gegeneinander antreten", wie auch die deutschen Diskuswerfer und Weitspringer. Kunst sagt: "Die wollen alle besser werden."

Schippers-Spektakel

Dafne Schippers war dann auch da, auf dem Aufwärmplatz zwar, aber das reichte bereits, um das Publikum am Freitag in Aufregung zu stürzen. Schippers, 24, aus Utrecht, ist seit vergangenem August Weltmeisterin über 200 Meter, seit Wochen ist sie das Werbegesicht der EM. Und deshalb übertrugen sie am Freitag jetzt jede Aktion auf die Großbildschirme im Stadion: Schippers dehnt sich, Schippers joggt, Schippers plaudert, Schippers fährt mit einem Golfwagen ins Stadion. Schippers selbst ließ sich vom Rummel nicht aus ihrer Ruhe werfen, auch nicht, als vor ihrem Halbfinale das Stadion verstummte und plötzlich eine Dixieband auf dem Stadion-Vorplatz ein Lied in den Abend schmetterte. Schippers gewann sowohl Halbfinale (10,98 Sekunden) als auch das Finale (10,90) in der kalten, windigen Nacht, sie erfüllte pflichtgemäß den nationalen Auftrag, den Niederlanden einen Titel zu beschaffen. Sie wurde auch in Amsterdam wieder von Dopinggerüchten begleitet, dezenter als bei der WM, damals war sie mit ihren 21,63 Sekunden in die Sphären von DDR-Sprinterinnen vorgerückt. Am Ende wohnte also auch diesem heiteren Abend mal wieder die Erinnerung inne, dass die Verbände das defekte Anti-Doping-System (und den dadurch wuchernden Generalverdacht) nicht unter Kontrolle bekommen.

23rd European Athletics Championships - Day Two

Die Läuferin Gina Lückenkemper, die bei den Spielen in Brasilien mit der 4 x 100-Meter-Staffel positiv überraschte.

(Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)

Abschied

Man hat die Hammerwerferin Betty Heidler wohl selten so aufgeräumt erlebt wie in diesen Tagen von Amsterdam. Heidler trug nach der Qualifikation eine große Zufriedenheit mit sich herum. Im Finale schob sie sich früh in die Nachbarschaft der Spitze, an einen guten Wurf reihte sie einen noch besseren, 75,77 Meter waren es am Ende, Silber und Saisonbestweite. Heidler, 32, war über viele Jahre so etwas wie die inoffizielle Beauftragte für dramatische Episoden, mal blieb sie im Vorkampf hängen, mal verschluckte der Mess-Computer eine medaillenträchtige Weite, mal wurde sie Weltmeisterin. Nun also dieser stabile Wettkampf, den sie wohl auch deshalb "ein Stück entspannter" erlebte, weil sie zum Jahresende ihre Karriere einstellt. Gold war Anita Wlodarczyk vorbehalten, der Weltrekordhalterin aus Polen. Heidler war immerhin die Erste, die sich vorschriftsgemäß mit der deutschen Flagge einkleidete und vor den Kameras Stellung bezog. "Ich freue mich extrem, dass ich noch mal zeigen konnte, dass ich gut bin", sagte Heidler später, "und auch wenn ich aufhöre, immer noch da bin."

Wiedersehen

Der Abend nach seinem EM-Titel? Wie immer, sagte der Zehnkämpfer Thomas Van der Plaetsen. Na gut, er habe kurz gefeiert, dann sei er bald ins Bett gekrochen, um halbzwölf. "Ich war sehr müde", sagte der Belgier. Dafür habe er sich am nächsten Tag schon wieder viel besser gefühlt, "das war vor der Krankheit noch anders", sagte er.

Die Krankheit. Davon hat Thomas Van der Plaetsen, 25, aus Gent, natürlich erzählen müssen in Amsterdam. Er hat seine Einschätzungen dann stets so entspannt vorgetragen, wie es nun mal so ist, wenn man sich aus einer außergewöhnlichen Situation langsam wieder in den Alltag zurücktastet. Sein Verband hatte ihm im Herbst 2014 ein Brief geschickt, er sei positiv auf das Hormon HCG getestet worden. Was zwei Dinge nahelegte: Doping (was er abstritt) oder, wie Van der Plaetsen bald herausfand, ein Hinweis auf einen Tumor. Er ging zum Arzt, tatsächlich, Hodenkrebs, er ließ sich bald operieren. Die WM vor einem Jahr beendete er schon wieder als 14., jetzt die Goldmedaille in Amsterdam. Seine 8218 Punkte reichten sogar für die Olympia-Zulassung, die er noch nicht erworben hatte. "Diese Goldmedaille", sagte er, "ist für alle, die gegen den Krebs kämpfen." Ansonsten wolle er sich jetzt ausruhen. Am kommenden Samstag steht der nächste Wettkampf im Kalender, Weitspringen in Heusden.

Auf Kollisionskurs mit Kanalbooten

Die Nahrungskette der öffentlichen Fortbewegung ist in Amsterdam recht klar geordnet. Ganz oben die Mopeds, die auch die Fahrradwege bevölkern dürfen, sie halten dabei eisern an ihrer Ideallinie fest, komme was wolle (zum Beispiel Fahrradfahrer). Dann die Fahrradfahrer, die nicht minder unerschütterlich ihre Linie verteidigen (zum Beispiel gegenüber Fußgängern). Dann kommen Passanten. Leichtathleten sind in dieser Nahrungskette übrigens nicht viel weiter oben angesiedelt. Weitspringer Greg Rutherford aus Großbritannien beschlich vor seinem Wettkampf die Idee, sich vor seinem Hotel aufzuwärmen. "Ich musste Mopeds, Fahrrädern, Autos und Kanalbooten ausweichen", richtete er aus. Vielleicht verteidigte er seinen EM-Titel auch deshalb erst im letzten Versuch. Immerhin, in der Heimat erwarten Rutherford weder Mofas noch Kanalboote. Nur der britische Linksverkehr.

EM-Splitter: Liebling der Niederländer: Dafne Schippers.

Liebling der Niederländer: Dafne Schippers.

(Foto: John Thys/AFP)

Willkommenskultur? Oder ein türkischer Witz?

Die türkische Leichtathletik ist bei vergangenen Europameisterschaften nicht unbedingt durch Erfolge auffällig geworden. 12 Medaillen haben sie seit 1950 gesammelt, weitere Erfolge wurden vom Dopingstrudel der Neuzeit verschluckt. Vor allem die Taten der ehemaligen Olympiasiegerin Asli Cakir Alptekin, die am Samstag in der ARD erstmals gestand, selbst gedopt zu haben. Bis zum Samstagvormittag grüßten die Türken nun plötzlich von der Spitze des Medaillenspiegels, mit drei Goldplätzen, viermal Silber und einmal Bronze. "Wir haben eine Null-Toleranz-Haltung gegen Doping etabliert", sagt Fatih Cintimar, Präsident des nationalen Verbandes, "in den vergangenen drei Jahren haben wir eine neue Generation erschaffen."

Ein Gesicht dieser neuen Generation ist die Kenianerin Vivian Jemutai, 19. Jemutai heißt jetzt Yasemin Can, startet seit März für die Türkei und gewann in Amsterdam locker die 10 000 Meter. Über 400 Meter Hürden feierte Yasmani Copello Escobar seinen ersten EM-Titel, ein gebürtiger Kubaner. Der ehemalige Jamaikaner Jacques Harvey (jetzt: Jak Ali Harvey) beendete die 100 Meter als Zweiter. 16 der 39 türkischen Athleten haben ausländische Wurzeln, manche sollen noch nie in der Türkei gelebt haben, erzählten Insider in Amsterdam. Laut Regelbuch des Weltverbands darf sich ein Athlet nach einer zwölfmonatigen Wartezeit einem anderen Verband anschließen; wenn der abgebende Verband protestiert, verlängert sich die Periode um zwei Jahre. Und jetzt? Ist der türkische Erfolg ein Produkt einer cleveren, konsequenten Strategie auf dem internationalen Markt? Ein Zeichen für eine europäische Willkommenskultur? "Ein Witz", wie die irische Läuferin Fionnuala McCormack befand? "Der europäische Verband wird darüber nach der EM reden", teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. "Wir konzentrieren uns jetzt erst einmal auf die letzten zwei Tage einer bislang großartigen Veranstaltung."

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