Deutsche Elf nach dem 4:4:Plötzlich bricht alles zusammen

4:4 nach 4:0 - das hat es noch nicht gegeben. Den Deutschen muss dieses Spiel gegen Schweden vorgekommen sein, als würden sie in einem hell erleuchteten Haus eine fast fiebrige Party feiern, doch plötzlich beginnt ein Erdbeben. Der Putz beginnt zu bröckeln, die Lichter fallen von der Decke - und sie müssen das einstürzende Haus verlassen.

Thomas Hummel, Berlin

In den Sekunden und Minuten nach dem Schlusspfiff von Schiedsrichter Pedro Proença wusste kaum einer, was er mit sich anfangen sollte. Die 70.000 deutschen Zuschauer im Berliner Olympiastadion waren sich ebenfalls uneins: Sollten sie nach diesem irren Kick nun klatschen, oder doch buhen und pfeifen?

Die deutschen Spieler auf dem Rasen erstarrten zunächst, nur Philipp Lahm ging wie aufgezogen zwischen den Kollegen umher und schimpfte vor sich hin. Und Bundestrainer Joachim Löw ereilte sogleich der Fluchtreflex, ehe er nach ein paar Metern Richtung Kabinengang stehen blieb und leicht verstört auf das Spielfeld blickte.

4:4 nach 4:0. Das hat es noch nicht gegeben, nicht im Leben eines Spielers und auch nicht in der Geschichte der deutschen Fußball-Nationalelf.

4:0 nach 60 Minuten gegen Schweden, das doch der stärkste Gegner sein sollte in der Qualifikationsgruppe C zur Weltmeisterschaft 2014. 60 Minuten lang ein rauschhafter Abend. Der Ball war so schnell von einem deutschen Feinfuß zum nächsten geflitzt, dass die Zuschauer Mühe hatten, mit den Augen zu folgen. Mesut Özil auf Marco Reus auf Thomas Müller auf Toni Kroos auf Miroslav Klose, alles in rasendem Tempo, alles so federleicht.

Die Schweden mussten sich fühlen wie in einem dieser Fahrgeschäfte auf dem Rummelplatz, nach denen man sich eine Zeit lang am Geländer festhalten muss, um wieder geradeaus laufen zu können. "Wir haben 60 Minuten lang den besten Fußball gespielt, seitdem ich dabei bin", erklärte Bastian Schweinsteiger, der dabei ist seit dem 6. Juni 2004. Und dann? Waren noch 30 Minuten zu spielen.

Schweinsteiger war nach diesen 30 Minuten "enttäuscht und sprachlos, das darf uns nie im Leben passieren". Torwart Manuel Neuer stand auf dem Weg zum Mannschaftsbus fünf Meter weiter und erklärte: "Das ist schrecklich und total unverständlich." Team-Manager Oliver Bierhoff sah in der Kabine, dass alle schockiert und fassungslos seien, "so ein Spiel noch abzugeben, ist echt unglaublich". Und als Thomas Müller aus der Kabine kam, rief er nur: "Was soll man da noch sagen?" Und sagte nichts. Wie die meisten seiner Kollegen.

"Fußball ist ein Rätsel", fasste Erik Hamrén zusammen, der glückselige Trainer der Schweden. Dann lobte er Zlatan Ibrahimovic als großartigen Kapitän, weil dieser die Mannschaft in der Halbzeit mit ein paar Worten wieder aufgerichtet habe. Und er durfte sich selbst ein wenig loben wegen zweier Wechsel in der Halbzeit, die das schwedische Spiel völlig veränderten.

Er hatte mit dem 21-jährigen Alexander Kacaniklic einen Dribbler gebracht für einen Defensivspieler und dazu den kantigen Routinier Kim Källström in der Mitte. Die Gäste standen plötzlich viel weiter vorne, hatten zwei Anspielstationen mehr. Källström durfte von der Mitte aus die ersten beiden Treffer vorbereiten mit zwei Hebern über die Abwehr, Kacaniklic enteilte auf links vor dem 3:4 und den Ausgleich in der Nachspielzeit bereitete wieder Källström mit der letzten Flanke des Spiel vor. "Wir haben ein phantastisches Spiel gemacht. Wir sind sehr glücklich", erklärte Ibrahimovic.

Wie auf einer Party

Den Deutschen musste es vorgekommen sein, als würden sie in einem wunderbaren, hell erleuchteten Haus eine fast fiebrige Party feiern, doch plötzlich beginnt ein Erdbeben. Der Putz beginnt zu bröckeln, die Lichter fallen von der Decke, es wird dunkel - und am Ende müssen sie das einstürzende Haus verlassen. "Wir kassieren ein Tor, dann zwei, dann bricht alles zusammen", klagte Philipp Lahm.

Deutschland - Schweden

Zlatan Ibrahomovic erzielt gegen Torwart Manuel Neuer den Treffer zum 4:1 und leitet damit die unglaubliche Aufholjagd gegen die deutsche Mannschaft ein.

(Foto: dapd)

Die DFB-Elf wirkte nach den schnellen beiden Treffern zum 2:4 binnen 120 Sekunden (62./64.) überrascht. Plötzlich riskierten die Schweden viel, ließen vorne auch mal drei, vier Spieler stehen, gingen resolut in die Zweikämpfe - und die Deutschen verloren völlig den Halt. Als sie die Gefahr spürten, dass der Vier-Tore-Vorsprung vielleicht nicht reichen könnte, gerieten sie förmlich in Panik und vergaßen alle Vorgaben.

Wie eine Kreisliga-Mannschaft, in der nun jeder das macht, was ihm gerade einfällt. Zu sehen beim Stellungsfehler von Jérôme Boateng vor dem 3:4 oder der Verweigerung des Mittelfelds, das Zentrum zu schließen und einen Zweikampf zu führen. Sogar Torwart Manuel Neuer unterliefen schlimme Patzer.

Bundestrainer Joachim Löw erzürnte die Abfolge vor dem Ausgleich in der Nachspielzeit. Seine Mannschaft hatte einen Freistoß in der gegnerischen Hälfte, Schweinsteiger sah noch Gelb wegen Spielverzögerung. "Statt dass wir da irgendwie den Ball zur Eckfahne spielen, ihn vehement verteidigen, landet der Ball bei Manuel Neuer", ereiferte sich Löw.

Dessen Schlag nach vorne mündete in einen Ballverlust, bei der letzten Flanke "sind wir in Überzahl im Strafraum, stehen aber im Raum, stehen hintereinander, verlieren die Zuordnung zum Gegenspieler". Und Rasmus Elm schoss das 4:4. "Es ist schwer zu sagen, warum wir so viele Fehler gemacht haben", erklärte Löw fast kleinlaut.

Von den rasenden Kombinationen in der ersten Stunde war da längst keine Rede mehr. Während viele Beteiligte das Spiel als Einzelereignis abheften wollten, als Teil eines Lernprozesses, ließ sich Oliver Bierhoff kurzzeitig zur Grundsatzkritik hinreißen.

"Ich will der Mannschaft keine falsche Mentalität vorwerfen. Aber es nicht das erste Mal, dass wir durch Nachlässigkeiten den Gegner ins Spiel kommen lassen, dass wir nicht genug Biss haben, den Sack zuzumachen." Wenn diese Mannschaft den großen Sprung machen und eine Topmannschaft sein wolle, dann dürften ihr solche Fehler nicht unterlaufen.

Dieses Spiel hinterließ einige ratlose Gesichter. Die einzigen beiden, die einen wirklichen Plan hatten, waren Lukas Podolski und André Schürrle. Während in der Kurve am Marathontor die schwedischen Fans gerade Zlatan Ibrahimovic feierten, schnappten sich der eingewechselte Podolski und der nicht eingewechselte Schürrle einen DFB-Trainer und absolvierten mehrere Steigerungsläufe über den halben Platz. Eine kleine Trainingseinheit nach diesem Erlebnis kann nicht schaden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: