Thomas Bach:"Ich muss den Athleten in die Augen schauen können"

IOC-Chef Bach erklärt im Interview, warum Russland nun doch zu Olympia fährt und warum ausgerechnet die Whistleblowerin Julia Stepanowa nicht starten darf.

Thomas Bach, das IOC hat trotz nachgewiesenen Staatsdopings gegen einen Komplett-Ausschluss Russlands von den Olympischen Sommerspielen entschieden. Warum?

Bach: Die IOC-Exekutive stand vor einer sehr schwierigen Entscheidung. Wir mussten die Konsequenzen aus dem McLaren-Report ziehen. Wir mussten dabei die Balance finden zwischen der Gesamtverantwortung und dem Recht jedes einzelnen Sportlers, um jedem Athleten gerecht zu werden.

Ein Gesamtausschluss kam demnach nicht infrage?

Bach: Jeder muss die Chance haben, auf die Anschuldigungen zu reagieren, es gilt die Unschuldsvermutung. Deswegen haben wir strenge Kriterien entworfen, die jeder russische Sportler erfüllen muss, wenn er an den Olympischen Spielen teilnehmen will.

Die Entscheidung wird sehr heftige Reaktionen auslösen.

Die Entscheidung wird sicherlich nicht jedem gefallen, aber es geht um Gerechtigkeit. Die Entscheidung respektiert das Recht eines jeden sauberen Athleten auf der ganzen Welt. Die Botschaft ist eindeutig. Es wird eine Gesamtverantwortung angenommen angesichts der üblen Anschuldigungen, aber es soll auch eine Ermutigung für alle sauberen Athleten sein. Man kann im russischen Sport ein Vorbild sein, wenn man sauber ist. Und: Weitere Sanktionen können folgen.

Die Whistleblowerin Julia Stepanowa darf nicht starten. Warum?

Sie war selbst zu lange Teil des Systems. Wir sind dankbar für ihr Engagement, deshalb laden wir sie und ihren Ehemann ein, in Rio Gäste des IOC zu sein. Wir zeigen damit, dass wir bereit sind, sie zu unterstützen.

Sie haben die Entscheidung, welche russischen Sportler doch noch teilnehmen können, an die Weltverbände weitergereicht. Am 5. August sollen die Spiele beginnen. Wie soll das zu schaffen sein?

Wir hatten keine Wahl. Wir mussten schnell reagieren. Aber nach dem Olympia-Gipfel haben wir das Konzept der Unschuldsvermutung bereits angedeutet. Viele internationale Sportverbände haben schon große Anstrengungen unternommen. Sie werden in der Lage sein, in den nächsten Tagen ihre Dokumente vorzulegen.

Wenn Sie selbst noch Athlet wären und in Rio starten würden - wie würden Sie sich fühlen?

Würde ich selbst an den Spielen teilnehmen, würde ich mich absolut gut fühlen, weil saubere Athleten nicht bestraft werden für ein System, in das sie nicht verwickelt waren. Das können sie jetzt nachweisen. Ich muss den Athleten in die Augen schauen können, die von unserer Entscheidung betroffen sind. Das kann ich.

Ist es eine schwache Entscheidung?

Schauen Sie sich die Entscheidung an. Die Grundfrage war: Inwieweit kann ein einzelner Sportler für ein System in einem Land zur Verantwortung gezogen werden? Wir haben die Latte für eine Teilnahme sehr hoch gelegt.

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