Der Handballer und die Schwimmerin:"Nur mit Olympiagold wirst du unsterblich"

Zwei sportliche Welten, ein Paar - eine Olympiade mit der Schwimmerin Franziska van Almsick und dem Handballer Stefan Kretzschmar.

Von Josef Kelnberger und Christian Zaschke

Zwei Minuten und 15,68 Sekunden sind eine angemessene Zeit, um eine Dusche zu nehmen. Franziska van Almsick nimmt stattdessen ein Bad am Morgen dieses 19. Septembers 2000, und sie nimmt es vor 15000 Zuschauern in Sydneys Aquatic Center. 2:15,68, Desaster im Vorlauf über 200 m Schmetterling, ihr letztes olympisches Einzelrennen, vermutet man stark.

van Almsick/Kretzschmar
(Foto: Foto: dpa)

Es scheint, als wolle sie sich selbst demütigen, nachdem sie am Abend zuvor über 200 m Freistil, auf ihrer Weltrekordstrecke, das Halbfinale nicht überstanden hat. Aus der Traum vom olympischen Gold, Staffel-Bronze ist weniger als ein Trostpreis, dazu bekommt sie Häme gratis. Franzi van Speck. Als Molch holt man kein Gold. Arme Franzi, dickes Kind. Ihr Management verbreitet dürre Statements, sie selbst schweigt.

Im Olympischen Dorf empfängt sie aber Michael Groß, der sie für die Bunte ausfragen darf, ein passendes Organ für eine Sportlerin, die zum Zeitgeist-Phänomen verkommen ist. War sie nicht fit genug? Antwort: "Du meinst das Thema, Franzi sei fett. Nein, wenn es bloß so einfach wäre. Ich fühle mich eher so, als ob man innerlich verblutet..habe eine wahnsinnige Angst zu verlieren...innerlich total zerrissen...nichts gelernt...mich selbst gedemütigt." Die Frau brauche dringend jemandem, dem sie ihr Herz ausschütten könne, schreibt Groß. Was Groß nicht weiß: Sie hat schon jemanden gefunden, in der Kantine des Olympischen Dorfes.

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft in Ballbesitz, das Viertelfinale gegen Spanien. Spielstand 26:26, noch eine Minute zu spielen. Die Deutschen in Überzahl, wer als nächster trifft, gewinnt, es kann gar nicht schiefgehen, und dann kommt der Ball zu Stefan Kretzschmar, vom Boulevard getauft: der Handball-Punk. Kretzschmar spielt Linksaußen, was hat er schon für Tore geworfen von dieser Position, herrliche Trickwürfe, unverschämte Heber.

Kretzschmar, die Piercings mit weißen Pflastern verklebt, springt in den Kreis, 40 Sekunden sind noch zu spielen, und jetzt überlistet er Torwart David Barrufet mit einem Aufsetzer. Besser geht es kaum, der Ball fliegt unter den Füßen des Tormanns hindurch und prallt vom Boden wieder hoch. Er steigt. Der Sekundenzeiger schiebt sich allmählich nach vorn, es wirkt wie die Ewigkeit, und der Ball - er steigt. "Vielleicht, wenn dort eine nasse Stelle gewesen wäre oder so", sagt Bundestrainer Heiner Brand später.

"Nur mit Olympiagold wirst du unsterblich"

Aber da ist keine nasse Stelle am Boden, der Ball sprang sauber auf, und jetzt steigt er, er hört gar nicht mehr auf zu steigen, und schließlich, am Ende der Flugbahn, prallt er gegen die Latte und zurück ins Feld. Die Zeit läuft, schnell auf einmal, aber nicht schnell genug, der spanische Linksaußen Guijosa kommt an den Ball, sechs Sekunden vor Schluss, er springt wie Kretzschmar sprang, und er trifft. 27:26 für Spanien, und Kretzschmar sagt später: "Ich fühle mich wie der Arsch der Nation." Er versteht, was Leiden im Sport bedeutet, mit ihm kann man darüber reden. Er kann zuhören, verstehen und erzählen.

van Almsick

Franziska van Almsick will bei Olympia nicht bloß baden gehen.

(Foto: Foto: AP)

"Ohne ihn wäre ich ins Olympische Feuer gesprungen." Eine Liebeserklärung, schnief. Bauarbeiter, die die beiden in Magdeburg beim Turteln ertappten, haben die Bild-Zeitung alarmiert. Ein ostdeutsches Traumpaar. Eine Liebe, die knistert (Bunte). Er gibt zu, dass er manche Stellung wegen seiner kaputten Knie nicht mehr hinkriegt, sie verpasst die WM-Saison 2001 wegen eines - Bandscheibenvorfalls!

Doch den Gedanken an Rücktritt hat sie verworfen. Er hat sie überzeugt, dass sie weiter machen soll, nur für sich allein, nicht für die, um mit ihm zu sprechen: Säcke/Ärsche/Idioten von der Presse. Sie kehrt zurück zu Trainer Norbert Warnatzsch, der sie schon als Kind anleitete, schwimmt in dessen Trainingsgruppe beim SG Neukölln mit acht Männern. Eine Mannschaft, ein Team! Fast wie im Handball! Sie sagt: "Die Erfolge von Stefan haben mich schon gepiesackt."

Handball-WM 2001 in Frankreich, Viertelfinale gegen die Gastgeber, und die Deutschen verlieren wieder mal unglücklich. Sie tragen zu jener Zeit den Ehrentitel "Bester Viertelfinalist der Welt", ein Titel zwischen Lob und Demütigung. Kretzschmar hat die Nase voll. Er erklärt seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Nur für sich allein, nicht für die von der Presse. Kretzschmar erklärt später seinen Rücktritt vom Rücktritt, und sein Verein, der SC Magdeburg, spielt eine gute Saison und wird Deutscher Meister. 2001 ist ein gutes Jahr, die Beziehung intakt, sportlich auf einem Gipfel.

Aber es geht ja immer weiter im Sport, nächste Saison, in der Liga läuft es durchwachsen, aber der SC Magdeburg spielt in der Champions League. Es läuft gut, und zwischendurch, Anfang 2002, steht mal wieder eine Europameisterschaft an. Die Deutschen spielen gut, sehr gut sogar, sie erreichen das Finale gegen Schweden. Sechs Sekunden vor Schluss führen sie, dann fällt der Ausgleich. Unmittelbar nach dem Anwurf wirft Florian Kehrmann den Ball ins schwedische Tor, einer der beiden mazedonischen Schiedsrichter gibt den Treffer, der andere nicht. Ergebnis: kein Tor, 14000 Schweden im Globen zu Stockholm jubeln.

"Nur mit Olympiagold wirst du unsterblich"

Kretzschmar

Will sich mit Deutschland durchsetzen: Stefan Kretzschmar

(Foto: Foto: AP)

"Wer dieses Tor vor solch einer Kulisse gibt, muss einen Arsch in der Hose haben, und das traue ich keinem zu", sagt Kretzschmar. In der Verlängerung gewinnt Schweden. In der Nationalmannschaft hat Kretzschmar kein Glück. Am 29. April 2002 gewinnt Kretzschmar mit dem SC Magdeburg die Champions League. Manche seiner Mitspieler schreien, Nenad Peruncic trinkt Whisky und weint. Kretzschmar ist sehr ruhig und gefasst nach der Partie. Er hat den Gipfel erklommen, mehr geht nicht im Vereinshandball. Die Schinderei hat sich gelohnt, im Finale hat er mit Jochbeinbruch gespielt. Willenskraft. Ein Ansporn für seine Freundin?

Berlin, Samstag, der 3. August 2002. Am Morgen denkt sie, sie habe Fieber. Fühlt sich fix und fertig. Ihr wird übel. Zehn Minuten vor dem Rennen will sie einfach nur aus der Halle rennen. Als sie vor den Startblock Nummer fünf tritt, winkt sie ins Publikum - sie erntet einen Orkan, und da schon entgleisen ihre Gesichtszüge. Würde sie überhaupt noch schwimmen können, oder einfach untergehen und ertrinken? Sie springt mit einem mächtigen Satz ins Wasser, und als sie auftaucht, liegt sie schon in Führung.

Sie will das alles nur noch hinter sich bringen, so schnell wie möglich. 27,14 Sekunden braucht sie für die ersten 50 m, 7/100 weniger als 1994 in Rom. 56,27, die zweite Zwischenzeit: 59/100 unter der Weltrekordmarke, bei 150 m dann: 1:26,33, unfassbar, 79/100 schneller als in Rom. Die Halle tobt, ihr Trainer weiß: Das Tempo kann sie nie im Leben halten. Sie bricht ein, sie scheint zu stehen, doch auf den letzten 15 Metern kann sie noch einmal Gas geben, kein Mensch weiß, woher sie das nimmt.

Die Uhr bleibt stehen bei 1:56,64, 14/100 früher als in Rom, wo sie mit Weltrekord Weltmeisterin wurde. Sie setzt sich auf die Leine zwischen Bahn vier und fünf, planscht sanft das Wasser, und in dem Sprühregen beginnt sie zu weinen. Man weint mit ihr, selbst ihr Lebensgefährte hat heute Mühe, cool auszusehen. Mit fünf Titeln beendet sie die EM zu Hause in Berlin. Zeit, abzutreten? Sie schweigt mit seligem Lächeln. Klaus Steinbach, der NOK-Chef, stichelt: "Nur mit Olympiagold wirst du unsterblich, Franzi." Man konnte Franzi streichen und ersetzen durch: Kretzsche.

Kann es immer so weitergehen, dass sie sich nun abwechseln, dass der Erfolg wie ein Pendel von einem zum anderen schwingt und schon wieder zurück? Es erscheint so. Handball-WM 2003 in Portugal, die Deutschen marschieren durch das Turnier und erreichen das Halbfinale. Kretzschmar genießt das alles, die Stimmung im Team ist unglaublich gut. Er ist Mannschaftssportler, bei aller Individualität, und in dieser Mannschaft fühlt er sich aufgehoben. Er freut sich schon auf das Finale. Es soll ein besonderes Spiel werden. Sein Spiel.

"Nur mit Olympiagold wirst du unsterblich"

Er sagt: "Im Finale würde ich mein 200. Länderspiel machen." Und dann schickt er via MDR Grüße nach Hause: "Also, die Botschaft nach Hause: Mutter, ich komme, das sind dann nur noch 18." Kretzschmars Mutter Waltraud war Handball-Nationalspielerin in der Mannschaft der DDR. Kretzschmar sagt: "Die Erfahrung, die sie mir voraus hat, die 18 Spiele, die gibt sie mir hier jeden Tag am Telefon mit der groben Kelle." Alle sprechen in diesen Tagen von Portugal von der Geschichte, die das deutsche Team schreiben könne, weil ja 1978, genau 25 Jahre zuvor, eine deutsche Männer-Mannschaft Weltmeister geworden ist.

Fragt man Kretzschmar danach, dann sagt er: "Meine Erinnerung daran im Nachhinein ist, dass damals meine Mutter und mein Vater Weltmeister waren." Mutter Waltraud stand auf dem Parkett, Vater Peter war Trainer, als die DDR-Frauen 1978 den WM-Titel gewannen. Kretzschmar will in diesem Finale von Lissabon seine persönliche Geschichte schreiben. Samstag, 1. Februar 2003, Halbfinale gegen Frankreich. Kretzschmar prallt mit seinem Magdeburger Teamkollegen zusammen, dem Franzosen Joel Abati. Als er am Boden aufschlägt, bricht der kleine Finger der rechten Hand, der Wurfhand. Weiterspielen unmöglich. Deutschland gewinnt und steht im Finale.

Kretzschmar wird untersucht, es ist ein diagonaler Bruch. Er kann nicht mehr spielen. Kretzschmar im Finale dieser WM, das hätte ein freundliches Pathos ausgestrahlt, ein Stück Geschichte der Bundesrepublik, ein Stück Geschichte der DDR und ein Stück Familiengeschichte, alles vereint auf dem Parkett des Pavilhao Atlantico in einem Handball-Spiel. Er sitzt auf der Bank, während die anderen gegen Kroatien verlieren, er fühlt sich beschissen, sagt er, aber später am Abend geht es ihm wieder besser. Die Mannschaft hat begriffen, dass sie etwas Großes geleistet hat, und außerdem ist Kretzschmars Lebensgefährtin angereist. Sie ist begeistert davon, wie gut die Mannschaft die Niederlage verkraftet und feiert mit den Männern bis früh am Morgen.

Nicht wirklich schlimm diese Niederlage der Handballer, sagt sie. "Nicht umsonst habe ich mir das Wort Schicksal auf den Rücken tätowiert. Ich glaube, dass alles seinen Sinn hat. So werden sie jetzt vielleicht Olympiasieger." Schwer zu glauben, dass alle Tätowierungen Sinn haben, die sie und ihr Lebensgefährte sich verpassen ließen. Aber sie hat Muße zum Philosophieren.

Ein Café in Berlin-Mitte, Zeit für ein Gespräch in aller Ruhe. Sie hat Kretzschmars riesigen Hund mitgebracht (wer wen führt, ist schwer zu erkennen). 2003, ein Zwischenjahr. Sie lässt die WM in Barcelona sausen, wieder so eine Entscheidung, die viele nicht verstehen, aber das ist ihr inzwischen egal. Sagt sie. Nach der EM streikte ihr Immunsystem, so platt war sie: Nierenbeckenentzündung, Lungenentzündung, zumindest fast. Sie müsse sich die Kräfte nun einteilen. Und von den Kolleginnen hat sich keine gemeldet, um sie umzustimmen.

"Nur mit Olympiagold wirst du unsterblich"

Da ist sie doch neidisch auf die Handballer: "Wie die aufeinander aufpassen, cool!" Aber sie kennt ihre eigenen Grenzen: "Ich hätte nie Mannschaftssportlerin werden können. Wenn ich in Topform wäre, und irgendeine Gurke neben mir meint, sie hätte keine Lust, sie könne jetzt nicht und schmeißt an den Pfosten - da würde ich durchdrehen." Nach Barcelona, wo die Kolleginnen und Kollegen fünf Goldmedaillen holen, Hannah Stockbauer allein drei, schickt sie Grüße und Glückwünsche per SMS.

Anfang 2004, kurz vor der Handball-Europameisterschaft in Slowenien. Irgendwann muss es klappen mit einem Titel, vielleicht diesmal. Kretzschmar ist vorsichtig optimistisch, aber da sind die Schmerzen an der Leiste. Er kann die Zähne zusammenbeißen, das schon, aber irgendwann wird es zu viel. Untersuchung. Diagnose: Ein Fettknoten an der Leiste drückt auf einen Nerv. Operation. Kretzschmar muss die EM absagen, und die Deutschen gewinnen den Titel. Endlich, nach all den Jahren, und er ist nicht dabei.

Er saß zu Hause vor dem Fernseher, es machte ihn beinahe verrückt, und schließlich, vor dem Finale, sagte seine Lebensgefährtin: "Setz' dich ins Auto und fahr' jetzt dahin." Er fuhr und nahm den ebenfalls verletzten Markus Baur mit. Später, auf der Siegesfeier in einem Klub in Ljubljana, war er ein bisschen traurig; als er auf die Bühne sollte, sagte er: "Es ist doch nicht mein Titel." Die Mannschaft war anderer Ansicht, und Heiner Brand sagte gerührt: "Dass Stefan Kretzschmar und Markus Baur zum Finale eigens mit dem Auto gekommen sind, um dabei sein zu können, das sagt schon einiges. Wie diese Mannschaft harmoniert und zusammenspielt, das ist einzigartig."

Juni 2004, schon wieder Berlin, noch ein Heimspiel und die üblichen Aufgeregtheiten. Verpenn' bloß nicht den Vorlauf, hat ihr Teamchef Beckmann geraten. Sie verpennt nicht, qualifiziert sich für Athen und hält hinterher wieder einen ihrer Vorträge. "Ich fühle mich wie die Dompteurin meiner eigenen Willenskraft", sagt sie, es geht um Schwimmen als "Schweinesportart". Eine Schweinesportart ist dies: Man trainiert ein Jahr lang nur für einen Tag - sie nennt ihn Psychoterrortag -, für eine Uhrzeit, und wenn es nicht klappt, "war alles umsonst".

Ihr definitiver Psychoterror-Schweinsportarttag ist nun Dienstag, der 17. August, Tag des Finales über 200m Freistil in Athen. Da soll sich der Kreis schließen, ihr sportliches Leben runden, in dem sie seit ihren ersten Olympischen Spielen 1992 so ziemlich alle Rollen gespielt hat: Symbol der Einheit und verdorbene Millionärin, Lolita und lila Kuh, Sexsymbol und Franzi van Speck. Übrigens: Mehr noch als sich selbst wünscht sie diese Goldmedaille, sagt sie jedenfalls: ihrem Lebensgefährten.

Nach den Olympischen Spielen wird es die Nationalmannschaft in der Besetzung, die Trainer Brand so lobte, nicht mehr geben. Viele Spieler beenden ihre Karriere. Einmal will sie noch alles geben, sie hat in Ljubljana gespürt, dass sie es kann. Diesmal, wenn es um den höchsten Titel geht, will sie mit Kretzschmar gewinnen, denn er gehört einfach dazu.

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