Debatte um Prothesen-Weitspringer Rehm:"Ein menschliches Gelenk kann das nicht leisten"

Leichtathletik-DM in Ulm

Vorteil durch Karbon? Weitspringer Markus Rehm nach einem Versuch bei den nationalen Meisterschaften am Samstag in Ulm.

(Foto: dpa)

Der Mensch mit Behinderung als überlegener Athlet: Ein Gutachten soll klären, ob der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm nach seinem Sieg bei den Deutschen Meisterschaften bei der EM starten darf. Biomechanik-Professor Veit Wank findet: nein.

Von Johannes Knuth

Prof. Dr. Veit Wank leitet den Bereich Biomechanik am Institut für Sportwissenschaft der Universität Tübingen. Wank war früher selbst Leichtathlet, er führt seit Jahren biomechanische Messungen mit Hochleistungssportlern durch, hat zudem Kontakte zu Herstellern von Sport-Prothesen. Als der Unterschenkelamputierte Markus Rehm am Samstag bei den nationalen Leichtathletik-Meisterschaften in Ulm 8,24 Metern sprang und den Titel gewann, schaute Wank im Stadion zu. Das Gutachten, das nun klären soll, ob Paralympics-Starter Rehm in der olympischen Klasse mitmachen darf, kann laut Wank eigentlich nur ein Ergebnis zulassen.

SZ.de: Herr Wank, wie haben Sie den viel diskutierten Weitsprung-Wettbewerb am Wochenende verfolgt?

Veit Wank: Ich war vor Ort in Ulm, wenn auch leider etwas spät dran - die letzten drei Sprünge konnte ich aber sehen. Ich habe damit gerechnet, dass Markus Rehm eine Medaille holt. Dass er es geschafft hat, finde ich gut. Jetzt kann man diese Diskussion um die Vergleichbarkeit behinderter und nicht behinderter Athleten endlich einmal grundsätzlich führen.

Ein Mensch mit Behinderung besiegt den nicht behinderten Rest - welche Tragweite hat das?

Rehms Leistung ist beeindruckend und einzigartig, wenn man sich mal die Konkurrenz im Behindertensport anschaut. Seine Gegner springen dort sonst um die sieben Meter weit. Aber dass der Verband die deutsche Meisterschaft unter dem Begriff der Inklusion großzügig laufen ließ, halte ich für fragwürdig. Ich bin absolut dafür, dass Behindertensport in den großen Leistungssport eingebunden wird. Nur sollten dann zwei verschiedene Wettkämpfe stattfinden oder es sollte zumindest eine getrennte Bewertung von behinderten und nicht behinderten Sportlern geben.

Sind die Leistungen von Athleten mit künstlichen also nicht mit denen von Athleten mit natürlichen Gliedmaßen vergleichbar?

Mit Sicherheit nicht. Ich glaube auch nicht, dass dafür zwingend ein Gutachten notwendig ist. Das wird schon deutlich, wenn man betrachtet, wie die Weiten jeweils zustande kommen. Zunächst einmal hat Rehm weniger Gewicht. Ein Unterschenkel wiegt sicherlich doppelt so viel wie die Karbonfeder. Das ist schon ein Faktor. Dann ist das Karbonbein etwas länger als ein menschliches. Das muss so sein, ansonsten könnte er gar nicht schnell und symmetrisch laufen. Der Hauptunterschied ist aus meiner Sicht der Absprung. Rehm zieht beim Absprung seine größte Energie aus dem - künstlichen - Sprunggelenk. Ein menschliches Gelenk kann das nicht leisten.

Wie wirkt Rehms Karbonfuß genau?

Das ist wie bei einer Feder. Wenn man die Feder zusammendrückt, steckt man Energie hinein, wenn sich die Feder entspannt, erhält man Energie zurück. Bei einer Karbonfeder kriegt man, je nach Bauart, ungefähr 80 Prozent an Energie zurück. Die nötige Energie dafür muss der Athlet gar nicht investieren, das macht die Feder von selbst. Bei einer menschlichen Sehne sind es deutlich unter 50 Prozent. Beim Weitsprung spielen allerdings noch andere Faktoren eine Rolle, deshalb lassen sich die beiden Prozentwerte nicht eins zu eins auf den Wettkampf übertragen. Grob gesagt ist es aber so: Rehm gewinnt am meisten Energie mit seinem künstlichen Sprunggelenk, beim Menschen ist das Sprunggelenk beim Absprung der schwächste Punkt. Schon allein deswegen kann man Prothesen-Springer und menschliche Springer eigentlich nicht vergleichen.

In Ulm lief Rehm zudem angeblich langsamer an als seine Konkurrenten.

Ich kenne die Werte von der deutschen Meisterschaft nicht. Ich kenne aber Rehms Werte aus anderen Wettkämpfen. Und die deuten darauf hin, dass er auf den letzten fünf, zehn Metern vor dem Absprung deutlich langsamer ist als die Spitzenleute. Sie schaffen meist um die zehn, zehneinhalb Meter pro Sekunde. Ich glaube nicht, dass Rehm das erreicht.

"Der Begriff Inklusion hat in der Diskussion nichts zu suchen"

Das sportwissenschaftliche Gutachten, das derzeit angefertigt wird, kann also nur ein Ergebnis haben: Dass Karbonfuß-Weitsprung und Weitsprung mit natürlichen Gliedmaßen zwei unterschiedliche Disziplinen sind?

Davon bin ich überzeugt. Es ist zwar bedauerlich für ihn, dass er jetzt so im Rampenlicht steht und am Ende möglicherweise eine Entscheidung gegen seinen Start bei der Europameisterschaft fällt. Wenn es so kommt, würde ich das aber begrüßen.

Der Behindertensportverband geht davon aus, dass der DLV den Athleten am Mittwoch für die EM nominiert. Rehm sagte zuletzt, er wolle seinen Start nicht einklagen. Hätte man dieses Hin und Her nicht verhindern können?

Ich kenne die internen Entscheidungswege nicht. Aber es ist ja spätestens seit einem Jahr jedem klar, dass Markus Rehm diese Norm springen kann. Die Verantwortlichen haben das einfach mal auf sich zukommen lassen. Jetzt muss schnell eine Entscheidung her. Die Erwartung des Verbandes war meines Erachtens eher, dass Rehm keine acht Meter springt, die EM-Norm nicht schafft und die Sache keine Aufmerksamkeit erfährt ...

... wie im Fall des Südafrikaners Oscar Pistorius, der nach langen Diskussionen bei der WM 2011 mit zwei Fußprothesen starten durfte - und dann im Halbfinale über 400 Meter ausschied.

Man stelle sich vor, der wäre in den Endlauf gekommen. Aber so kam die Diskussion um die Vergleichbarkeit nicht auf. Es gibt ja auch andere Wettbewerbe bei den Paralympics, die man mit Leichtathletik-Wettbewerben vermischen könnte. Das macht aber niemand, weil die Leistungen zu weit auseinander liegen. Beim Weitsprung haben wir nur den Zufall, dass die Endweiten ungefähr gleich sind: Die Topspringer springen zwischen 8,00 und 8,50 Meter, ähnlich wie Rehm. Deswegen suggerieren die Funktionäre nach außen, dass die Leistungen vergleichbar sind. Für die Zuschauer ist das attraktiv: Ein Mensch mit Handicap besiegt die Nichtbehinderten. Das ist aus biomechanischer Sicht in dem Fall aber nicht haltbar.

Sollte das Gutachten gegen Rehms Start bei der EM ausfallen, wäre das also weniger ein Statement gegen Inklusion - sondern ein Beleg für zwei unterschiedliche Disziplinen?

Der Begriff Inklusion hat in der Diskussion um Rehm nichts zu suchen. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Bei der Inklusion im Sport sind wir, denke ich, auf einem guten Weg. Viele Länder subventionieren mittlerweile paralympischen Leistungssport. Das ist auch gut so. Viele Jugendliche, die aufgrund ihres Handicaps in "normalen" Wettbewerben nicht starten können, können so besser motiviert werden. Es gibt bei nationalen paralympischen Wettbewerben mittlerweile beachtliche Leistungen. Die gehen aber unter, weil die Medien wenn überhaupt nur über die Paralympics berichten.

Markus Rehm beschreibt sich selbst als Teilzeit-Leistungssportler, nun ist er Deutscher Meister. Können behinderte Sportler unter professionellen Bedingungen bald weiter springen als nicht behinderte?

Das würde ich nicht ausschließen. Wenn ich überlege, über welches Talent Rehm verfügt, welche Möglichkeiten es auf dem Gebiet noch gibt, zu tüfteln und zu schrauben - dann sind bei ihm achteinhalb Meter keine Illusion. Dann würde man noch klarer sehen, dass sich seine Leistungen mit denen von Athleten mit menschlichen Gliedmaßen nicht vergleichen lassen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: