"Das Märchen geht weiter":Angekommen im Paradies

Seine taktischen Konzepte sind antiquarisch, seine Erklärungsmuster altbekannt - Psychogramm eines Mannes, der dennoch zum Helden wurde.

Von Holger Gertz

Lissabon, 2. Juli - Irgendwie lief es auf so ein Ergebnis hinaus, spätestens als Jan Koller den Ball nicht ins Tor, sondern seinem Sturmpartner Milan Baros auf den Körper köpfelte.

"Das Märchen geht weiter": Otto Rehagel in seinem Element.

Otto Rehagel in seinem Element.

(Foto: Foto: dpa)

Oder als dieser Koller seinem Kollegen Rosicky den Ball auflegte, dieser ihn zurückspielte, aber Koller ihn am Tor der Griechen vorbei trat. "Wer die Chancen nicht nutzt, wird dafür bestraft", das ist so eine Floskel aus dem Stehsatz aller alten Fußballtrainer, eine herbergerhafte Weisheit, das Spiel dauert neunzig Minuten. Manchmal dauert es auch 105, Ecke für Griechenland, der in der Tat auffällig runde Ball fliegt scharf vors Tor, nicht schlecht geschossen, der Abwehrmann Traianos Dellas steht bereit und drückt ihn über die Linie.

Natürlich ist der, der das Tor macht, ein Abwehrmann mit der Berufsbezeichnung Ausputzer. Eine Position, die es im modernen, in Ketten und Diamanten organisierten Fußballspiel nicht mehr gibt. Natürlich ist es ein silver goal, das erste der Geschichte und in einem Augenblick erzielt, als die Tschechen keine Zeit mehr haben, selbst eins zu schießen.

Deutscher Fussball im blau-weißen Trikot

Und natürlich ist es ein Augenblick, der eine Botschaft birgt, an alle daheim, die schlimmere Befürchtungen gehabt haben: Es kann Entwarnung gegeben werden. Der deutsche Fußball ist gar nicht tot, er trägt jetzt nur ein blau-weißes Trikot.

Oder einen blau-weißen Trainingsanzug, wie Otto Rehhagel, der Trainer dieser griechischen Mannschaft, die eine Sensation zuwege gebracht hat. "Mit Leidenschaft und Einsatzfreude haben meine Spieler den Sieg an sich gerissen", sagte er nachher im Pressesaal des Drachenstadions von Porto, ein Satz, der nach Sepp Herberger klingt, wie aus fremder Zeit in den Saal gerufen.

Otto Rehhagel, den mit modernem Fußball eigentlich nur die Zahnlücke verbindet, über die auch der brasilianische Stürmer Ronaldo verfügt - er steht mit der griechischen Fußballnationalmannschaft im Endspiel um die Europameisterschaft. So hingeschrieben sieht das irgendwie verstörend aus.

Knie nieder, Reporter

Um einigermaßen zu verstehen, was das alles bedeutet, muss man sich noch mal klarmachen, welche Art Fußball bei dieser Europameisterschaft gespielt worden ist. Es war neuer Fußball. Mittelfeldtrapeze entfächern sich im richtigen Moment, Trainer wie der Holländer Advocaat oder der Spanier Saez werden für eine ergebnissichernde Auswechslung oder eine zu vorsichtig gespielte Halbzeit bitter bestraft, alles wird vorgetragen mit rasantem Tempo und dem Ziel, das Spiel nicht zu verschleppen, sondern es seiner Erfüllung entgegenzutreiben: dem Tor.

Die Teilnehmer des Endspiels hätten keine geeigneteren sein können als die Portugiesen, die noch nie etwas gewonnen haben, und die Tschechen - nach Meinung aller, die sich auskennen, das beste Team des Turniers. Spielplatz am Sonntag: das Estadio da Luz in Lissabon, das Stadion des Lichts, das - wenn man es nuschlig ausspricht - leicht zum Stadium des Lichts wird: genau dort schien der Fußball angekommen zu sein.

Eine Meisterschaft wie ein Champagnerbad - aber dann kommt einer und wirft eine Brausetablette in die Wanne. Eine schwer eisenhaltige. Otto Rehhagel hat schon immer einen anderen Fußball spielen lassen, deutschen Fußball, erst mal hinten dicht machen und dann vorne sehen, was passiert.

Zu einer Zeit, als das noch nicht so negativ auffiel, gewann er mit Werder Bremen Pokal, Meisterschaft und Europapokal, wobei die Bremer schönen Fußball, mit einer Raute drin, erst heute spielen, dank Trainer Thomas Schaaf, aber Otto Rehhagel hat schon gesagt, dass ein schön erspielter Titel nicht so viel zählt wie ein kämpferisch bestätigter.

Angekommen im Paradies

Also, wer einmal gewinnt wie Schaaf, hat noch lange nicht erreicht, was er, Rehhagel, sich erarbeitet hat. Rehhagel wurde später Meister mit dem Aufsteiger Kaiserslautern und wies, in aller Bescheidenheit, darauf hin, das sei eine einmalige Leistung.

Otto Rehhagel setzt bisweilen ein großes Ausrufezeichen hinter seine Tat, eine eher unangenehme Eigenschaft.

Nach dem Spiel in Porto also sagte Otto Rehhagel, er habe seinen Männern in der Kabine erzählt: "Das Märchen geht weiter." Rehhagel spricht von Männern, wenn er Fußballspieler meint und von Märchen, wenn die Taktik aufgeht.

Andere Trainer wie Arsène Wenger oder José Mourinho, auch Ottmar Hitzfeld, wählen Vokabeln, die weniger verschwurbelt klingen und den Fußball nicht als Wunderwelt beschreiben, sondern als Business. Wann hat Hitzfeld je von Männern gesprochen? Er sagt Profis, früher auch Proffis, aber das hat er sich abtrainiert.

Otto Rehhagel trainiert sich nichts ab und vermutlich wohl auch so schnell nichts an. Wer ihn bei der Europameisterschaft erlebt, sieht einen Mann, der nicht nur alten Fußball spielen lässt, sondern ihn mit den selben Begriffen beschreibt wie damals in Bremen, Kaiserslautern und München.

Hexenhafter Tanz nach einem Tor

Der ihn mit den selben Gesten am Spielfeldrand untermalt: die zum Pfiff in den Mund gesteckten Finger, der mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper vollführte Lauf zur Fankurve, der hexenhafte Tanz nach einem Tor. Der schließlich mit Journalisten spricht, wie er immer gesprochen hat, unten in den mixed-zones, wo sich Spieler und Journalisten treffen: mit den Händen fuchtelnd, die Augen halb geschlossen, als sei er wie berauscht, von sich, von den Griechen, von allem.

Das heißt, ein Gespräch im Sinne von gefragt werden und fragen kommt kaum zustande. Otto Rehhagel, damals in Bremen wie heute in Portugal, neulich bei einem Vortrag an der Sporthochschule Köln wie vorgestern vor dem ZDF-Mikrophon seines Lieblingsinterviewers Töpperwien, hält einen ewigen Monolog.

"Ihr habt mich nie richtig geschätzt"

Ich weiß, wie man es macht im Fußball. Und: Ihr habt mich nie richtig geschätzt. Wer ihm widerspricht, fängt sich bisweilen eine Abfuhr ein wie einer, der es wagte, Helmut Kohl zu widersprechen.

Es gibt diese alten Geschichten: wie er in München, wo es viele Zeitungen gibt und viele Reporter, von denen die wenigsten an Märchen und Märchenkönige glauben, wie er also in München einem Journalisten die Frage stellt: "Sie wollen Kinder in die Welt setzen?" Und die Antwort gleich selber gibt: "Wie furchtbar".

Oder wie er in Kaiserslautern zu einem Radiomann sagt: "Knie nieder, dann spreche ich in dein Mikrophon." Das war zwar nur ein Witz, aber welche Witze man macht - ein bisschen sagen die auch immer über einen selbst.

Natürlich haben sich die Journalisten gerächt an ihm. Als er in einer Pressekonferenz einmal sagte, er werde fortan ausschließlich Fachfragen beantworten, meldete sich einer und stellte seine Fachfrage: "Ich muss morgen das Kinderzimmer meiner Tochter neu streichen. Welche Dispersions-Farbe würden Sie mir empfehlen?"Otto Rehhagel hat nämlich Anstreicher gelernt.

So ging das hin und her, bis er ausgewandert ist. Ein erledigter Fall. Deutsche Trainer im Ausland, das endete meist wie bei Berti Vogts in Schottland. Der hat auch immer Ärger gehabt mit Journalisten, ein ewig zu kurz Gekommener, aber weil es zuletzt bei ihm auch nichts wirklich Anerkennenswertes zu melden gab, bleibt ihm nur dieses still vor sich hinfressende Gefühl, für eine Wurst gehalten zu werden und das Gegenteil nicht beweisen zu können.

Wie großartig muss sich hingegen Otto Rehhagel fühlen an Tagen wie diesen, wo alles, aber auch wirklich alles für ihn läuft. Er gewinnt das erste Spiel gegen Portugal, in Griechenland reißen sie vor Glück die Akropolis ab, und er kann durch die mixed-zone rennen und deutschen Reportern sagen, wie es gemacht wird.

Er kann deutschen Reportern sagen, wie man gewinnt

Er kommt ins Viertelfinale, in Griechenland bauen sie vor noch mehr Glück die Akropolis wieder auf, und er kann deutschen Reportern sagen, wie man gewinnt. Er kommt ins Endspiel, in Griechenland heißen alle Neugeborenen Otto, in der Bild-Zeitung nennen sie ihn Rehakles, und die deutschen Reporter sagen gar nichts mehr, weil sie sich um den DFB kümmern müssen, dem inzwischen ein alter Teamchef abhanden gekommen und ein neuer Bundestrainer noch nicht zugelaufen ist.

Angekommen im Paradies

Wenn Genugtuung eines der herrlichsten Gefühle ist, die es gibt, dann ist Otto im Augenblick der glücklichste Mensch der Welt, der Antiquar des Fußballs, angekommen in der Antike und im Paradies.

Nach dem Spiel gegen die Tschechen lag er wie immer in einer Traube aus Spielern, bestimmt ist seine Freude ehrlich, und der Sieg war auch nicht unverdient. So wenig wie der Sieg vorher gegen Frankreich. Die Tschechen hatten Pech mit einem Schuss an die Latte, außerdem verletzte sich Pavel Nedved, ihr wichtigster Mann. Aber Rehhagels Griechen waren immer bei ihren Gegenspielern, Mann gegen Mann, wie man es früher gemacht hat, ein Trainer wie Rehhagel denkt nicht im Raum, und er hat das Personal für sein kraftraubendes Spiel. Ein paar Griechen sind bei großen Klubs im Ausland, während die Deutschen fast alle daheim spielen.

Und ein Verteidiger wie Georgios Seitaridis zählt zu den besten hier in Portugal. So klein, wie Rehhagel sie manchmal redet, sind die Griechen nicht. Seine Männer heißen Nikopolidis, Seitaridis, Dellas, Kapsis, Vryzas und Katsouranis, und wer - außerhalb Griechenlands - wetten würde, den Rest des Teams aufzählen zu können, würde hohe Geldbeträge verlieren.

Sie konnten darauf vertrauen, unterschätzt zu werden, gegen Frankreich war das offensichtlich, und gegen Tschechien, na ja, da rollte diese Mannschaft schon, und wenn eine Mannschaft rollt, befeuert von einem Kraftstoff aus Teamgeist, Begeisterung, Optimismus und Glück - dann ist immer noch vieles denkbar. Rehhagels Mannschaft ist also eine Turniermannschaft.

Mit minimalem Aufwand das Maximale herausholen

So ähnlich haben sich die Deutschen 1986 ins Finale der WM gemogelt, auch 2002. Mit 1:0-Siegen, wie jetzt die Griechen. Ein 1:0 heißt, mit minimalem Aufwand das Maximale herausgeholt zu haben. Dauernde Einsnulls wird kein Mensch lieben, aber das ist Rehhagel egal.

Er ist mittlerweile wie ein russischer Offizier. So viele Titel, so viele Ehrenzeichen, dass es ihm fast das Revers abreißt. "Wenn du gewonnen hast, fragt nach zwei Wochen kein Mensch mehr, ob es ein schönes Spiel war oder nicht", sagt Otto, den sie zum Ehrenbürger machen werden, und das Ehrenkreuz kriegt er auch, Griechenlands höchste Auszeichnung. Außerdem darf er jetzt dort auf der Busspur fahren.

Von Spiel zu Spiel mehr ist Otto Rehhagel übrigens von den Reportern gefragt worden, wie das wäre, er als deutscher Bundestrainer. Es war ihm ein etwas bitteres Vergnügen, mit halb geschlossenen Augen zu verkünden: "Ich habe einen Vertrag in Griechenland, und da bleibe ich."

Sich verweigern zu können, ist ein Privileg des Starken. Auch, wenn man sich damit selbst die Erfüllung eines innigen Wunsches versagt.

Andererseits offenbaren sich diejenigen, die germanischen Brachialfußball öffentlich verachten und gleichzeitig Rehhagel als neuen Trainer fordern, als ziemlich heuchlerisch. Ist Brachialfußball wirklich schöner Fußball, wenn er erfolgreich ist? Als das ZDF während des Spiels fragte, wer Völlers Nachfolger werden solle, waren 23 Prozent für Rehhagel.

Nach dem Spiel dürften es noch mehr gewesen sein. "Erst Fakten schaffen, dann reden" - auch so ein Satz von Otto Rehhagel, den er bringt, wann immer es passt. So wie die Dinge liegen, passt er ziemlich gut.

Allerdings, während auch hier in Lissabon die griechischen Fans trompetend durch die Straßen ziehen, kann man sich an Kaiserslautern erinnern, wo es vor ein paar Jahren ganz ähnlich war. Rehhagel kam aus München, wo er sich gestritten hatte mit der Presse, dem Präsidium und den Spielern.

Eigentlich wollte er nicht nach Kaiserslautern, aber da gab es den Aufsichtsratsvorsitzenden Atze Friedrich, einen alten Freund, der ihn lockte mit den Worten: "Bei uns darfst du wieder König Otto sein."

"Er ist verrückt"

Das ist der Kern. Rehhagel ist ein Milieu-Trainer, das werden selbst die irrlichternden Chefs beim DFB wissen, und sie werden auch wissen, dass ein Biotop, in dem er sich entfalten kann, keine Querulanten duldet, und am besten überhaupt keine Journalisten.

Die deutsche Nationalelf wäre niemals seine Welt. In Rehhagels eigener Welt baut er sich seine Mannschaft, da hat er klar Stärken: spähen, schauen, genau den Mann finden, den er für links hinten braucht oder für vorn in der Mitte.

In Griechenland hat er den einen oder anderen überredet, in die Mannschaft zurückzukommen, er hat nicht auf die Vereinspräsidenten gehört, die sonst immer in die Nationalmannschaft reingequatscht haben. Er hätte sie ohnehin nicht verstanden und sie ihn auch nicht. Seit 2001 ist er Nationaltrainer, spricht aber nur ein paar Worte griechisch.

Es kann durchaus von Vorteil sein, wenn man nicht richtig verstanden wird. Dann wirkt die Aura um so mehr, und was bei denen, die seine Sprache sprechen, als das begriffen wird, was es ist, Hochmut nämlich, geht anderswo als Weisheit durch.

In Griechenland haben sie sich ein schönes Lied zu Ehren Ottos ausgedacht. "Er ist verrückt, er ist verrückt, der Deutsche." Auch das ist keine Erklärung für seinen Erfolg. Aber, gegen Ende einer EM kommt es einem sowieso so vor, dass der Fußball, so leidenschaftlich sein Flug von den Fachleuten auch berechnet wird, doch etwas Unberechenbares in sich trägt. Man kann es auch den Faktor Glück nennen. So gesehen wird dieser Otto Rehhagel am Sonntag Europameister.

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