Confed Cup:Oberlippenflaum fordert Tattoo

  • Joachim Löw benennt vier Spieler, auf die er beim Confed Cup hauptsächlich bauen will: Mustafi, Kimmich, Hector und Draxler.
  • Aber hat sein Nachwuchsteam gegen die starken Chilenen eine Chance? Der Bundestrainer will es mit einer Außenseiter-Taktik versuchen.

Von Martin Schneider, Kasan

Manche sagen, es sei die größte LED-Wand Europas; an anderer Stelle steht, es sei die größte Video-Wand eines Fußballstadions weltweit. 155 mal 26 Meter misst sie jedenfalls und am Vorabend der Partie strahlte die Kasan-Arena die Landesflaggen von Deutschland und Chile mit der Intensität eines Fernlichtscheinwerfers in den Abend. Bis um 22 Uhr Ortszeit, dann wird der riesige Fernseher ausgeschaltet - andernfalls könnte keiner der Bewohner der angrenzenden Häuserblocks ohne Rollläden schlafen. 465 Millionen Euro hat die futuristische Schüssel gekostet und sie soll einer Seerose nachempfunden sein. Gegenüber von Hochhäusern, denen man die Folgen des Kommunismus noch ansieht, wirkt sie, als hätte sie jemand direkt aus dem Jahr 2030 an das Ufer der Kasanka gebeamt.

In diesem unbestreitbar hochmodernen Stadion wird nun am Donnerstag das auf dem Papier stärkste und vor allem interessanteste Gruppenspiel des Confederations Cup stattfinden. Es spielt der dritte gegen den vierten der (umstrittenen) Fifa-Weltrangliste, aber hauptsächlich stellt sich die Frage, ob die deutsche Studiengruppe mit ihrem Oberlippenflaum gegen diese abgezockte und taktisch hoch clevere Bande aus Straßenkämpfern bestehen kann. Manche Chilenen haben ja mehr Tattoos auf dem Körper als einige deutsche Kicker Länderspiele. Und so wurde Bundestrainer Joachim Löw bei der Pressekonferenz auch ziemlich direkt gefragt, ob seine Mannschaft zu brav sei für das Spiel gegen die Männer aus dem längsten Land der Welt. Der komplette deutsche Confed-Cup-Kader hat in all seinen Länderspielen bisher genau sieben gelbe Karten kassiert. Bei Chile kommen allein Arturo Vidal und Gary Medel zusammen auf 40.

"Chile ist hart und stark im Zweikampf", benannte Löw das Offensichtliche. Aber das erwarte er auch von seiner Mannschaft und präzisierte: "Ein gutes Zweikampfverhalten bedeutet: Ballgewinn. Das ist schlau - und nicht Foul zu spielen und reinzutreten. Das will ich nicht. Sondern ich möchte sauber geführte Zweikämpfe." Vielleicht, betonte Löw, seien einige seiner jungen Spieler in ihrer Erfahrung "nicht ganz so weit in den schnellen Extremsituationen", vermutlich wissend, dass es gegen Chile viele schnelle Extremsituationen geben könnte. Da müsse man aber natürlich noch lernen. Mut würde er seinen Spielern jedenfalls nicht absprechen.

Löw schwärmte vom Südamerika-Meister. Er sei taktisch flexibel wie kaum eine andere Nationalmannschaft. Man wisse nie, wer auf welcher Position spiele, alle Athleten könnten Tore erzielen und außerdem haben sie eine Siegermentalität. Der euphorische Löw ging in taktische Details - etwa beim 1:0 der Chilenen gegen Kamerun durch Vidal. Da habe man gesehen, wie der Bayern-Spieler weit hinten im Feld "bei der Spielauslösung" (so nennen Trainer den ersten Pass, mit dem ein Angriff eingeleitet wird) beteiligt war. Dann läuft der Ball über die Seite und am Ende köpfelt der Spieler, der zu Beginn des Angriffs am weitesten hinten stand. Tor. Teilweise würden bei Flanken sechs oder sieben Chilenen in den Strafraum sprinten. Diese Wege müsse man mitgehen. Wer dabei schläft, verliert.

Löw benennt sein "Gerüst"

Löw will gegen Chile eine Außenseiter-Taktik fahren, er selbst rechnet gar nicht damit, dass sein Team oft den Ball haben wird. Es wäre auch unklug, gegen die heranhetzenden Höllenhunde von Trainer Juan Antonio Pizzi einen gepflegten Pass aus der Abwehr zu versuchen. Jeder verlorene Zweikampf würde einen gefährlichen Gegenangriff provozieren. Nein, Löw wird sich wie schon bei der Weltmeisterschaft 2010 die Jugend seiner Mannschaft zunutze machen und auf Konter spielen. Als Weltmeister mit Spielern wie Toni Kroos, Mats Hummels und Jérôme Boateng wäre das schwierig. Mit Julian Brandt, Sebastian Rudy und Lars Stindl kann man das schon eher machen.

Wobei nicht klar ist, ob einer dieser drei Spieler, die gegen Australien in der Startelf standen, überhaupt auflaufen wird. Löw kündigte an durchzuwechseln. Im Tor wird Marc-André ter Stegen stehen. Außerdem gebe es da noch sein Gerüst. Sein "Gerüst", das benannte er ungewöhnlich klar. Das seien die vier Spieler Joshua Kimmich, Shkodran Mustafi, Jonas Hector und Julian Draxler. Dieses Quartett des Vertrauens wird auch gegen Chile auflaufen, und vor allem die Nichtweltmeister Hector und Kimmich dürfen es als Auszeichnung verstehen, vom Bundestrainer so explizit genannt zu werden. Hector, weil er es durch eine nahezu Lahm'sche Beständigkeit in seinen Leistungen geschafft hat, und Kimmich, weil er immer noch erst 22 Jahre alt ist. Leon Goretzka zählte der Bundestrainer zwar nicht dazu, allerdings lobte er den Schalker als Spieler und Persönlichkeit so überschwänglich, dass schon viel schiefgehen muss, damit er den Confed Cup noch als Verlierer verlassen wird.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird außerdem Timo Werner auflaufen, weil er eher ein Konter-Spieler ist als der robuste Sandro Wagner. Emre Can würde im Mittelfeld zudem den chilenischen Bodychek-Kaskaden eher widerstehen als Sebastian Rudy. Ob Löw bei allen Experimentier-Parolen aber mutig genug ist, absolute Frischlinge wie Amin Younes, Kerem Demirbay oder Marvin Plattenhardt in ein Spiel zu werfen, das die Hitze der Atacama-Wüste erreichen kann, wird sich dann auf dem Aufstellungsbogen zeigen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: