Chinas Schwimmerin Lu Ying:Grenzen überschreiten beim Barbecue

Die chinesische Silber-Gewinnerin Lu Ying reflektiert offen den Drill-Dreiklang in ihrem Heimatland: Lernen, Trainieren und Schlafen. Erst bei der Olympia-Vorbereitung in Australien erfuhr sie, dass sich harte Arbeit und Spaß nicht ausschließen müssen - die seltenen Bekenntnisse einer Sportlerin aus China offenbaren Erstaunliches.

Claudio Catuogno, London

Es war gewissermaßen der Abend danach im Aquatics Center von London. Tag eins, nachdem die 16 Jahre alte Schülerin Ye Shiwen aus China den Weltrekord über 400 Meter Lagen in Grund und Boden geschwommen hatte - und auf der letzten Bahn schneller war als Ryan Lochte im Männerrennen über die gleiche Distanz. Auf der vorletzen Bahn, das ist inzwischen auch ausgerechnet, war sie schneller als Michael Phelps. Eine gewisse Unruhe war zu spüren. Was ist mit den Chinesen los?

148073151

Über 100 Meter Schmetterling in London erfolgreich, auch dank australischer Würste: Silber-Gewinnerin Lu Ying.

(Foto: AFP)

Die Times erinnerte am Montag daran, dass erst im März die ebenfalls 16 Jahre alte Li Zhesi positiv auf Epo getestet worden war, ein Fall, der noch bei der chinesischen Anti-Doping-Agentur anhängig ist. Ye Shiwen und Li Zhesi seien "früher Teamkolleginnen" gewesen, berichtete das Blatt. Den Rest musste man sich dazu denken. Der Zeitung China Daily war der Argwohn nicht entgangen.

"Roboter? Nein - bloß wirklich gute Sportler", titelte sie und listete auf, welche chinesischen Medaillengewinner sich schon zu vermeintlich unmenschlichen Trainingsumfängen befragen lassen mussten. Ryan Lochte wiederum erzählte, dass Ye Shiwen auch unter den Schwimmern ein großes Thema war: "Wir haben beim Abendessen darüber gesprochen. Sie war schnell."

Wie wird man so schnell? Das ist die Frage, die alle antreibt bei Olympia. Auch die Leute vom Deutschen Schwimm-Verband (DSV), die das ja nicht so gut hinkriegen.

Am Sonntagabend saß Lu Ying, 23, aus Shanghai auf dem Pressepodium hinter dem Walfisch-Bau, in dem die Schwimm-Medaillen vergeben werden. Sie hatte gerade über 100 Meter Schmetterling Silber gewonnen. In diesem Rennen stellte keine Chinesin einen neuen Weltrekord auf, sondern eine Amerikanerin: Dana Vollmer, 24, aus Syracuse im Bundesstaat New York. Guter Weltrekord, böser Weltrekord? So einfach ist es natürlich nicht. Die US-Athleten haben aber immer eine Menge zu erzählen, wenn sie gewonnen haben.

Dana Vollmer zum Beispiel kann minutenlang berichten, wie sie an ihrer Wendetechnik gearbeitet hat, an ihren Unterwasser-Kicks, überhaupt: an sich. An ihrer Ernsthaftigkeit als Athletin. "Ich bin eine ganz Andere geworden", sagte Vollmer, und wenn das so ist, dann gibt so ein Weltrekord ja gleich viel weniger Rätsel auf. Ye Shiwen hatte praktisch auf jede Frage geantwortet, dass es in China ein sehr gutes Training gibt.

Plädoyer für mehr Gelassenheit

Da war es jetzt naheliegend, auch Lu Ying zum chinesischen Schwimmen zu befragen, die Silbermedaillengewinnerin neben Vollmer. Und siehe da: Lu Ying erzählte eine Geschichte. Sie ist im chinesischen Staatssport groß geworden, und sie hat in Australien gelebt und trainiert, wo inzwischen einige chinesische Schwimmer Auslandssemester einlegen dürfen. Lu Ying kennt beide Welten. Sie kann vergleichen.

"In anderen Ländern haben die Sportler auch mal Freizeit", begann sie also ihre Geschichte, "in China gibt es nur: lernen, lernen, lernen, trainieren, trainieren, trainieren, schlafen, schlafen, schlafen. In China, egal vor welchem Wettkampf, musst du dich ausruhen und konzentrieren und darfst an nichts anderes denken. Die Australier gehen auch mal aus und haben Spaß, ohne sich gleich davor zu fürchten, dass sie dann müde sind im Training.

Die Australier haben eine Begeisterung für das Schwimmen, das gibt auch mir ein ganz anderes Gefühl. Du fragst dich dann: Trainierst du eigentlich für dich selbst oder für jemanden anderen?" Und in Australien, erzählt Lu Ying dann noch, "haben mich Teamkolleginnen zu Barbecues oder sogar zum Frühstück eingeladen. In China passiert das nie." Der chinesische Ansatz "hat viele Grenzen", sagte Lu Ying: "Und wir setzen diese Grenzen."

Es war eine bemerkenswerte Gesellschaftsanalyse inmitten der üblichen Gold-Silber-Bronze-Emotionen. Lernen, schlafen, trainieren - dieser Dreiklang dringt wohl tatsächlich zum Kern der chinesischen Dominanz in vielen Sportarten vor. Vermutlich, ohne es zu wollen, hat Lu Ying am Sonntagabend in London aber auch ein Plädoyer für die Alternativvariante gehalten. Ehrgeiz, Biss und Medaillen auf der einen Seite sowie eine selbstbestimmte, positive, unverkrampfte Herangehensweise auf der anderen müssen sich nicht unbedingt ausschließen. So hat sie das in Australien gelernt.

Die deutsche Schwimmerin Jenny Mensing stieg am Sonntag nach dem Vorlauf über 100 Meter Rücken aus dem Becken, sie war etwa eine Sekunde langsamer gewesen als Ende Mai bei der EM in Debrecen, sie lief lächelnd zu den TV-Kameras und sagte, dass sie eigentlich gar nicht enttäuscht sei. Das sei eben Olympia, eine ganz andere Geschichte. Und man könne ja auch nicht jeden Tag gut schwimmen.

Wie wird man schnell? Die Welt hat sich da gegensätzliche Modelle ausgedacht. So wie bei Jenny Mensing klappt es vermutlich eher nicht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: