Champions League:Wolfsburgs unbekannte Waffe namens Bruno Henrique

Champions League: Bruno Henrique beim Spiel gegen Madrid.

Bruno Henrique beim Spiel gegen Madrid.

(Foto: AP)

2015 stieg er in die zweite Liga ab, Julian Draxler kann nicht mit ihm reden. Wie konnte dieser Brasilianer das Spiel gegen Real Madrid prägen?

Von Javier Cáceres, Wolfsburg

Die Kapitulation wurde auch noch in Worte gegossen, am Ende einer Partie mit ungeheuerlichem Ausgang. Vieirinha, der kleine Portugiese des VfL Wolfsburg, und sein großer Landsmann Pepe von Real Madrid tauschten im Mittelkreis der Arena ihre Leibchen und auch ein paar Worte miteinander aus, und was Pepe da zu sagen hatte, war von aufrichtiger Verblüffung geprägt.

"Was für ein Riesenteam ihr habt", habe ihm Pepe gesagt, berichtete Vieirinha vergnügt. 2:0 hatte der VfL Wolfsburg soeben im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den spanischen Rekordmeister gewonnen - ein bisschen gegen die eigenen Überzeugungen, in jedem Fall gegen alle Prognosen und auch all der Häme der spanischen Medien zum Trotz.

Kroos, schreibt die Marca, habe "seine ostdeutsche Version" abgeliefert

Über den VfL Wolfsburg, hatte die Zeitung El País vor der Partie gespottet, könne man das Schlimmste sagen, was man überhaupt über eine Mannschaft sagen kann: "Sie weiß nicht, was sie spielen will." In der Nacht zum Donnerstag, nach dem "Sieg für die Ewigkeit", wie die Wolfsburger Nachrichten schrieben, relativierte der Autor seine Zeilen, beziehungsweise: Er präzisierte sie. Der VfL habe tatsächlich acht Monate lang unter Orientierungslosigkeit gelitten - bis er auf einen Gegner traf, "der das gleiche Problem hat": Real Madrid.

"Das ist alles unglaublich", sagte Wolfsburgs Josuha Guilavogui, ein groß gewachsener Franzose mit lustig gekräuselten Wimpern, "es war das perfekte Spiel." Er selbst hatte nicht wenig zu diesem Hochgefühl beigetragen. Zusammen mit dem Brasilianer Luiz Gustavo hatte er im defensiven Mittelfeld alles ausgeschaltet, was bei Real nach Eingebung roch: Luka Modric und DFB-Weltmeister Toni Kroos, dem die Sportzeitung Marca am Donnerstag attestierte, er habe in Wolfsburg "seine ostdeutsche Version" abgeliefert ("kühl, korrekt, vorhersehbar"). Beide wurden von Trainer Zinédine Zidane ausgewechselt. Da stand es längst 2:0.

Henrique stieg 2015 noch in die zweite brasilianische Liga ab

Wolfsburgs Linksverteidiger Ricardo Rodríguez, der in ein Formloch gefallen war, nachdem es geheißen hatte, er werde von Real als möglicher Marcelo-Ersatz gehandelt, hatte das 1:0 per Elfmeter erzielt. André Schürrle war beim Schussversuch von Reals Sechser Casemiro gestört und berührt worden (18.) - trotzdem eine sehr harte Entscheidung. Und in der 25. Minute folgte dann der Auftritt eines Phantoms: Bruno Henrique.

Der brasilianische Wintermarktzugang war von dem fast 90 Minuten lang brillanten Julian Draxler auf der rechten Seite angespielt worden und hatte dann auf Maximilian Arnold gepasst, der Real-Torwart Keylor Navas aus kurzer Distanz überwand. Es waren die ersten beiden Champions-League-Gegentore für Navas überhaupt. Ausgerechnet Bruno Henrique war also beteiligt, ein Startelfdebütant, von dem man bis Mittwoch kaum mehr wusste, als dass er 2015 mit Goiás in die zweite brasilianische Liga abgestiegen war. In bislang fünf Bundesliga-Einsätzen hatte er es als Einwechselspieler auf 102 Spielminuten gebracht. "Jetzt wisst ihr, wer Bruno Henrique ist", sagte der Brasilianer, der eine Stunde vor Beginn der Partie erfahren hatte, dass er von Beginn spielen würde.

Der größte Festtag, seit Pelé 1961 nach Wolfsburg kam

Nerven? Fehlanzeige: "Ich habe schon mal im vollbesetzten Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro gespielt", sagte Bruno Henrique. "Mit ihm haben wir eine Waffe gehabt, die von Real, glaube ich, nicht so erkannt worden ist", sagte Trainer Dieter Hecking, der für den Brasilianer den affären-umtosten Max Kruse lange auf der Bank ließ. Das sollte sich lohnen: Obwohl Bruno Henrique weder Deutsch noch Englisch spricht ("Wie ich mit ihm kommuniziere? Gar nicht", scherzte etwa Teamkollege Draxler), interpretierte er die Vorgaben des Trainers Hecking exzellent.

Vor der Partie hatten die Wolfsburger ein paar Zusammenschnitte von Real-Madrid-Spielen vorgeführt bekommen. Bilder vom Clásico beim FC Barcelona vom Wochenende waren dabei, dazu Ausschnitte aus diversen anderen Liga- und Champions-League-Spielen. Der Schwerpunkt lag darauf, den Wolfsburgern vor Augen zu führen, welche Latifundien sich im Rücken der Abwehrspieler Madrids zuweilen auftun - und dass es diese Räume zu nutzen gelte. Das Resultat konnte sich sehen lassen. Wolfsburg selbst erlebte die Real-Visite als den größten internationalen Festtag seit dem Wolfsburg-Besuch des FC Santos von Pelé im Juni 1961 - und versetzte aus dieser Lockerheit heraus Real in einen Zustand der Angst vor Angstattacken.

Wie sehr das die prominenten Gäste hemmte, konnte man daran ablesen, dass Wolfsburgs Torwart Diego Benaglio nur ein Mal pro Halbzeit eingreifen musste, gegen Karim Benzema (14.) und gegen Cristiano Ronaldo (73.). Umgekehrt hätten die Wolfsburger den Vorsprung sogar noch ausbauen können - wenn sie ihre Konter besser zu Ende gespielt hätten. Auch durch Bruno Henrique.

Dass sich der VfL bei gegnerischem Ballbesitz zu organisieren weiß, konnte man hingegen als gegeben voraussetzen. Erst recht, weil Abwehrchef Naldo nur fünf Wochen nach seiner Schultereckgelenksprengung - und das hieß: nach brutal abgekürzter Verletzungspause - wieder in der Startelf stand und dem ganzen Defensivgerüst Präsenz und Aggressivität verlieh; "Wir waren ständig da, waren ein bisschen eklig und haben sie geärgert. Das hat man auch nach und nach an ihrer Körpersprache gemerkt", sagte Julian Draxler, der sein vielleicht bestes und vor allem komplettestes Spiel als Wolfsburger bot.

Die Teilnahme in der nächsten Saison ist noch möglich - wenn der VfL jetzt den Titel holt . . .

Dass er zu bedenken gab, dass "Real heute nicht am Limit gespielt" habe, ehrte ihn, ebenso der Gleichmut, den er bei einer anderen Frage zeigte. Als die Sprache auf Wolfsburgs bescheidene Performance in der Bundesliga kam, sagte Draxler: "Da bin ich ganz ehrlich: Mir ist dieser Abend viel zu schön, um über Dinge zu reden, die zuletzt nicht so gut gelaufen sind."

Allein, der Alltag holt auch die Wolfsburger wieder ein. Am Samstag empfangen sie als enttäuschender Tabellenachter die frechen Mainzer, es geht dann um die Optionen, zumindest die Europa-League zu erreichen; die Qualifikation für die nächste Champions League ist außer Reichweite.

Obwohl: Eine Teilnahme wäre dort doch noch möglich - wenn man jetzt den Titel holt: "Unser Ziel ist es jetzt, uns direkt für die Champions League zu qualifizieren", sagte Maximilian Arnold und meinte das wohl im Scherz. Aber wer weiß das schon so genau. Die Wolfsburger, auch das war eine Erkenntnis des Abends, wachsen in dieser Saison an ihren Aufgaben.

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