Champions League:Wolfsburg schafft das Sensatiönchen

Von Johannes Knuth

Nach einer halben Stunde schien auch der Letzte in der Wolfsburger Arena erfasst worden zu sein von dieser rätselhaften Wucht. Von einer Kraft, die Real Madrids Angriffe an den Naldos, Dantes, und Luiz Gustavos abprallen ließ. Die Julian Draxler und Maximilian Arnold eine zweite, dritte Luft schenkte, für den nächsten flirrenden Konter. Und die ein Blitzen in die Augen der Mehrheit der 26 400 Zuschauer zauberte. Ihr Klub würde doch nicht etwa Real Madrid überlisten? Das weiße Ballett, den turmhohen Favoriten aus Spanien?

Rund eine Stunde später war es tatsächlich amtlich: Der VfL Wolfsburg hat Real im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League 2:0 (2:0) besiegt. Sie haben noch keinen Passierschein für die Weiterfahrt in die nächste Runde erstanden, dafür wuchs am Mittwochabend aus ein paar verwegenen Gedanken tatsächlich ein konkretes Szenario: Der VfL Wolfsburg und das Halbfinale (!) der Champions League, mit den beiden könnte es tatsächlich was werden.

"Wir haben alles getan, worüber wir gesprochen hatten", stellte Manager Klaus Allofs nach dem Spiel fest, "wir haben mutig nach vorne gespielt und waren ballsicher. Es war recht schnell zu sehen, dass wir mitspielen können. Wenn wir im Rückspiel ähnlich mutig sind, können wir ins Halbfinale kommen."

In Wolfsburg hatten sie sich mit großem Eifer in dieses Duell geworfen, vermutlich auch, um sich ein wenig vom faden Alltag in der Liga zu lösen, in der es den VfL zuletzt auf Rang acht zurückgeweht hatte. Und sie wollten sich ihre Audienz bei den Königlichen auch nicht davon kaputtreden lassen, dass die Fußballwelt einen Wolfsburger Sieg ungefähr für so wahrscheinlich erachtete wie Schneefall am Persischen Golf. Beim VfL beschäftigen sie ja Hochbegabte wie Julian Draxler, André Schürrle und Max Kruse. Allerdings hat es Trainer Dieter Hecking in der aktuellen Saison nicht geschafft, seine Mannschaft so zu komponieren, dass beständig alle kreativen Kräfte geweckt werden.

Die wichtigste Änderung im Vergleich zum 0:3 gegen Leverkusen betraf also das Ressort Abwehr: Hecking gliederte Naldo in die Startelf ein, nur fünf Wochen nach dessen Schulterverletzung. Was wahlweise für Naldos regenerative Kräfte sprach. Oder für Heckings Verzweiflung angesichts der jüngsten Wolfsburger Abwehrleistungen. Im Angriff stellte sich noch ein zweiter Überraschungsgast vor: Bruno Henrique verdrängte Kruse.

Die Arbeitsaufträge für die Neuen sahen vor, dass Henrique Reals Marcelo beschäftigen würde. Und Naldo sollte der Abwehr mehr Halt spenden. Das klappte prächtig, eineinhalb Minuten lang. Dann rollte der Ball ins Wolfsburger Tor, Ronaldo, aber: Abseits. Real trug zunächst die stimmigeren Angriffe vor, mal war es Karim Benzema, mal Gareth Bale, der durchbrach; die größte Chance vergab Benzema (14.), der erst Dante umdribbelte, bis der schwankte wie ein Matrose im Sturm, dann allein aufs Tor zulief. Benaglio rettete. Naldos auffälligste Szene bestand zunächst darin, Benzema im Strafraum auf den Knöchel zu treten, ungestraft. Nach 15 Minuten war es schon beachtlich, dass Wolfsburg sich kein Tor gefangen hatte. Das fiel dann zwei Minuten später, allerdings auf der Gegenseite.

Real schüttelte sich, verdutzt

Der VfL hatte den Ball zu Draxler auf den linken Flügel geschmuggelt, Draxler leitete ihn scharf in den Strafraum zu Schürrle weiter, der holte aus, fiel - Casemiro hatte sich in die Schussbahn gestellt und Schürrle berührt, Elfmeter. Ricardo Rodriguez verwandelte sicher (17.).

Real schüttelte sich, verdutzt, dann veranlassten die Spanier umgehend wütende Angriffe. Doch die öffneten erst einmal nur Raum für Wolfsburg. Bald rauschte der Ball erneut ins Tor, nein, es war keine optische Täuschung, wieder jubelte Wolfsburg. Draxler war von der linken zur rechten Seitenlinie getanzt, hatte die Abwehr auseinandergezogen und Henrique auf dem rechten Flügel bedient. Der erspähte Arnold im Zentrum - 2:0 (25.).

Das Spiel entwickelte jetzt diese Wucht, wenn ein Außenseiter das Spiel an sich reißt. Real brach nicht mehr durch, es prallte ab, überall. Wenn sie doch einmal vorbeikamen, rettete Henrique, der zurückgespurtet war. Und immer wieder tanzte Draxler, der mit seinen Sprints parkplatzgroße Lücken in Reals Abwehr riss. Auch wenn die Sachverständigen zur Halbzeit rätselten, ob das dem formidablen Draxler geschuldet war - oder der Tatsache, dass Real vergessen hatte, einen Rechtsverteidiger zu nominieren.

"Die erste Halbzeit hat uns große Probleme bereitet", gestand Madrids Trainer Zinédine Zidane, er rückte die "fehlende Konzentration" ins Zentrum einer Analyse. "Aber wir machen uns jetzt nicht verrückt." Nicht verrückt?

SZ Espresso Newsletter

Auch per Mail bestens informiert: Bestellen Sie hier unseren täglichen SZ-Espresso-Newsletter. Hier bestellen.

Real stemmte sich nach dem Wechsel zunächst entschlossen gegen die Niederlage. Kroos probierte es per Distanzschuss (drüber), Ronaldo aus der Drehung (abgeblockt) und aus der Distanz (beim Schuss ausgerutscht). Wolfsburgs Matchplan - wetterfeste Zweikampfführung, Ausschwärmen zum Konter - beschränkte sich zunehmend auf die Zweikämpfe. Aber das reichte, um Reals Entschlossenheit langsam in Verzweiflung zu verwandeln. Ronaldo schmollte nach jedem Foul wie ein Halbstarker, dem man auf dem Dorffest die Freundin ausgespannt hatte. Schürrle vollendete einen perfekt choreografierten Konter, nein, der Ball strich knapp übers Tor (68.). Halb so wild. Real trieb am Ende fast hilflos in diesem Sog, der Wolfsburg bis zum Schlusspfiff dieses denkwürdigen Abends trug.

"Atemberaubend", sagte Torschütze Arnold später, "aber wir haben erst 50 Prozent geschafft." Er klang nicht mehr wie ein Vertreter eines Außenseiters.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: