Champions League: Werder Bremen:Kein Dirigent in Sicht

Andreas Herzog, Johan Micoud, Diego, Mesut Özil: 18 Jahre lang führten dominante Persönlichkeiten das Bremer Mittelfeld - jetzt werden sie vermisst. Der Brasilianer Wesley soll in diese Rolle hineinwachsen.

Ralf Wiegand

Die Frage kommt fast immer, wenn jemand diesem Wesley zum ersten Mal gegenübersteht: "Sind die echt?" Gemeint sind die kreisrunden, kronleuchterhellen Ohrstecker, die der junge Brasilianer rechts und links trägt, brillantes Geschmeide. Gemeint sein könnten aber auch die pechschwarzen Wimpern, die lang und dicht wie Mikrofaserbürsten seine blitzenden Augen umranden. Oder die persilweißen Zähne. Keine Frage, Wesley, dessen Hüften so schmal sind, dass er Paris Hiltons Hosen tragen könnte, ist ein hübsches Kerlchen. Aber noch wichtiger ist, was Werders Trainer Thomas Schaaf sagt: "Er ist ein guter Junge."

Werder Bremen - SC Freiburg

Der Brasilianer Wesley soll Bremens Mittelfeld dirigieren - doch noch befindet er sich in der Phase der Eingewöhnung.

(Foto: dpa)

Es dürfte in dieser Einschätzung durchaus Erleichterung mitschwingen, denn von den Eckdaten her war Wesley Lopes Beltrame, 23, für die Bremer ein Risikotransfer. Er hatte zuvor noch nie in Europa gespielt, und die Verhandlungen über die Ablöse gestalteten sich schwierig. Die Transferrechte waren verstreut über den südamerikanischen Kontinent, die Bremer brauchten lange, bis sie Wesley am Stück verpflichtet hatten - für wohl an die acht Millionen Euro. Unbekannter, aber hoch talentierter Mittelfeldspieler aus Brasilien mit vielen Besitzern und hoher Ablöse: Das erinnerte verdächtig an Carlos Alberto, den Stenz aus Sao Paulo und Werders teuerstes Transferabenteuer der Klubgeschichte.

Bei Wesley kam es anders. Wenn Werder Bremen an diesem Mittwoch im niederländischen Enschede darum kämpft, in der Champions-League-Gruppe A nicht schon schier aussichtslos ins Hintertreffen zu geraten, liegen auf dem schmächtigen jungen Mann große, berechtigte Hoffnungen. "Er ist ja erst am Anfang", sagte Thomas Schaaf nach den guten ersten Spielen der Neuerwerbung, "aber es sieht trotzdem so aus, als wäre er nie woanders gewesen." Er ist der präsenteste Spieler im Bremer Mittelfeld.

Wesley galt vor allem wegen des eher zufälligen zeitlichen Zusammentreffens seiner Verpflichtung mit dem Verkauf von Mesut Özil nach Madrid in der öffentlichen Meinung als dessen sportlicher Nachfolger - wenige Stunden, nachdem der deutsche Nationalspieler seinen Spind geräumt hatte, war der Monate zuvor eingefädelte Wesley-Transfer endlich perfekt. Tatsächlich haben die Bremer den Jung-Nationalspieler aber eher fürs defensive Mittelfeld verpflichtet, bestenfalls als Allrounder. "Er kann im Mittelfeld auf allen Positionen spielen", sagte Sportdirektor Klaus Allofs, mit Stärken auf der Position vor der Abwehr.

Es wohl ist der kleine Teufel Vielseitigkeit, der Wesley bisher daran gehindert hat, seine Rolle im Mittelfeld der Bremer zu finden - ein Mittelfeld, in dem in dieser Saison die Ordnung fehlt. Dabei war die hanseatische Zentrale in den letzten Jahren stets so etwas wie das Philharmonische Orchester der Bundesliga, angeleitet von Maestros aus aller Herren Länder: dem Österreicher Andreas Herzog (1992 bis '95, '96 bis 2002), dem Franzosen Johan Micoud ('02 bis '06), dem Brasilianer Diego ('06 bis '09). Ihn ersetzte in der Saison 2009/10 der bereits angelernte, 2007 aus Schalke geholte Mesut Özil.

Özil fehlt an allen Ecken"

18 Jahre lang gaben also sehr eigenwillige Individualisten im Werder-Ensemble den Takt vor; fast zwei Jahrzehnte gab es jemanden, dem man immer den Ball zuschieben konnte, weil er meistens eine Idee hatte, wo andere ratlos blieben.

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Nun mit Real Madrid erfolgreich: Mesut Özil, der den Bremern an allen Ecken und Enden fehlt.

(Foto: AFP)

Aber seit dieser Saison herrscht am Dirigentenpult beängstigende Stille.

Werders Torwart Tim Wiese war bisher der einzige, der sich traute, den Verlust in Worte zu fassen: "Özil fehlt uns an allen Ecken und Enden." Dafür setzte es verbale Hiebe von Aaron Hunt, der selbst seit Jahren ein ewiges, aber nie eingelöstes Versprechen auf den Regisseurjob ist: Solche Aussagen "ohne viel Überlegung" seien ja typisch für Wiese - mit anderen Worten: Der Torwart sei ein bisschen doof.

Hunt, erst 24, ist einer von jenen Mittelfeldspielern, auf die Thomas Schaaf das Spielmacher-Erbe des Klubs aufteilen wollte. Er sollte am ehesten zum Strategen taugen, daneben hat der Coach noch den extrem begabten, aber grenzenlos eigensinnigen Dribbler Marin, den zwischen Mittelfeld und Sturm pendelten Egozentriker Arnautovic sowie jede Menge fleißiger Helferlein im Kader. Frings, Bargfrede, Borowski, Jensen oder eben Wesley - eine flachere spielerische Hierarchie hatte Werder seit zwei Jahrzehnten nicht.

Ein solch derber Stilbruch nach so langer Zeit sollte ausreichen, um die spielerische Verunsicherung der Bremer schlüssig zu erklären. Sie sind auf der Suche, spielen mal mit einem rautenförmig aufgestellten Vierer-Mittelfeld wie früher, mal mit einem kompakteren Fünfer-Team zwischen Abwehr und Angriff - aber in keinem Spiel bisher auch nur annähernd so elegant wie gewohnt.

Wesley merkt man dabei an, dass er am liebsten noch viel mehr machen würde als das Spielfeld unermüdlich wie ein kenianischer Langstreckenläufer abzuschreiten und dabei stellungssicher und zweikampfstark den Gegner zu stören. Doch die vermaledeite Vielseitigkeit führte den Brasilianer nur einmal - ausgerechnet beim erbärmlichen 1:4 in Hannover - auf die Position in der Spitze der Raute.

Ebenso oft spielte er rechter Verteidiger, meist aber neben Frings vor der Abwehr. Nur die Macher des Computerspiels Fifa 11 haben ihn in ihrer Simulation als Spielmacher in die virtuelle Werder-Stammelf eingebaut. Doch das ist nicht echt - und der glitzernde Schmuck an beiden Ohren? "Diese Frage", sagt Wesley lächelnd, "würde ich doch gerne offen lassen."

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