Champions League:Bayern leidet

Aus dem Stadion von Claudio Catuogno

Jérôme Boateng saß auf dem Rasen und ruderte mit den Armen, an Aufstehen war nicht zu denken, da griffen ihm endlich zwei Arme unter die Achseln. Die Arme gehörten Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, dem im ganzen Universum bekannten Mannschaftsarzt des FC Bayern - und spätestens da war klar: Es kann nichts Gutes bedeuten, wenn ein 75-Jähriger einem 29-Jährigen als Gehhilfe dienen muss.

Das war aus Münchner Sicht die eine betrübliche Botschaft dieses Halbfinal- Hinspiels gegen Real Madrid, welches dem FC Bayern doch eigentlich eine gute Ausgangslage verschaffen sollte auf dem Weg ins Champions-League-Finale nach Kiew: Das Spiel hatte seinen Preis - Verschleiß. In der achten Minute hatte es bereits Arjen Robben erwischt, und nun, nach 30 Minuten, den Nationalverteidiger Boateng.

Die andere betrübliche Nachricht: Die Bayern waren an diesem Mittwochabend in ihrer Arena nicht nur an Sehnen, Adduktoren und Knochen verletzlich, sie waren es auch als Mannschaftsgefüge, und deshalb haben sie dieses Spiel verloren, mit 1:2 (1:1). So, wie auch schon im vergangenen Jahr, gegen den gleichen Gegner, bloß damals bereits im Viertelfinale.

"Insgesamt war es ein kurioses Spiel", sagte Jupp Heynckes, "wir haben Madrid zwei Tore geschenkt. Da braucht man sich nicht wundern, dass man verliert."

Joshua Kimmich hatte die Bayern in Führung geschossen (28.) - zu einem Zeitpunkt, als noch niemand das Unheil kommen sah, als die Bayern Chance um Chance um Chance hatten und Real so gut wie keine. Aber dann kamen zu den vielen Gelegenheiten auch ein paar individuelle Fehler. Und da ist der Titelträger der vergangenen beiden Jahre dann einfach zu abgeklärt: Marcelo (44.) und der eingewechselte Marco Asensio (57.) drehten die Partie.

Kimmich war mutig im Spiel und blieb mutig danach: "So viele Riesenchancen hatten wir nicht einmal gegen Hannover letzte Woche. Real hat auswärts 2:1 gewonnen. Sie sind leicht favorisiert, aber wir werden alles reinhauen." In dieser durchaus verrückten Champions-League-Saison war schließlich schon vieles möglich.

Vier Mal in vier Jahren waren die Bayern zuletzt an spanischen Teams gescheitert: an Real, dem FC Barcelona, Atlético Madrid und erneut an Real. Verletzungen waren dabei oft ein Thema. In den letzten beiden Jahren war es jeweils Robert Lewandowski gewesen, der allenfalls partiell funktionsfähig in die entscheidenden K.o.-Partien gegangen war. Diesmal fehlte neben Kingsley Coman und Arturo Vidal kurzfristig auch noch David Alaba. Der Linksverteidiger hatte sich am Dienstag mit Oberschenkelproblemen vom Abschlusstraining abgemeldet, und weil sich Juan Bernat im Viertelfinale gegen Sevilla nicht unbedingt als Vertreter aufgedrängt hatte, platzierte der Trainer Jupp Heynckes auf der Planstelle den alten Haudegen Rafinha.

Obwohl der ja eigentlich was anderes gelernt hat, Rechtsverteidiger. Rafinha beging kaum einen Fehler. Aber einen entscheidenden, einen haarsträubenden Fehlpass im Mittelfeld, der zu einem Konter und Madrids 2:1 führte. Die berühmten Kleinigkeiten, die auf diesem Niveau über Sieg und Niederlage entscheiden.

"Wir haben uns heute keinen Gefallen getan", sagte Thomas Müller.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen für die Bayern: Nach 21 Sekunden war Robert Lewandowski bereits auf der linken Seite durchgebrochen und flankte nach innen, Thomas Müller versuchte es per Seitfallzieher, verpasste aber den Ball. Noch keine zwei Minuten waren gespielt, da hatte wiederum Reals Marcelo seinen Kollegen Toni Kroos auf den Weg geschickt, beunruhigend allein, was sich nach kurzer Schrecksekunde aber als Vorteil für die Münchner erweisen sollte: Keiner da, der Kroos' Flanke hätte produktiv weiterverarbeiten können.

Couragierte Aufstellung von Heynckes

Nach drei Minuten reklamierten die Bayern (unberechtigt) Handspiel nach einem Ball-Schulter-Kontakt von Dani Carvajal. Weil es in der Champions League keinen Videobeweis gibt, ging das Spiel einfach weiter. Und zwar im Sturm-und-Drang-Stil: drauf auf den Ball, auch mal drauf auf die Knochen. Robben musste wie erwähnt schon nach sieben Minuten passen, offenbar eine Verletzung im Leistenbereich.

"Bei Robben hoffen wir, dass es nicht so schlimm ist", sagte Jupp Heynckes, der in der achten Minute bereits wechseln musste: Thiago Alcántara kam für den Holländer, Müller rotierte hinaus auf den rechten Flügel. Dass das für die Statik nicht ausschließlich ein Nachteil sein musste, erschloss sich schon durch einen Blick auf Thiagos Rückennummer: die Sechs. Bisher war Javi Martínez der einzige Defensive gewesen im Bayern-Mittelfeld, Heynckes hatte so offensiv aufgestellt, dass man das zumindest couragiert nennen musste, wenn man es nicht riskant nennen wollte.

Nun stand also auch Thiago bereit, um Reals Angriffswellen zu brechen. Bloß: Es kamen keine. In der 23. Minute nutzte Carvajal eine Unachtsamkeit für einen Gewaltschuss - dann war auch Bayern-Keeper Sven Ulreich warm geschossen. Schon fünf Minuten später traf Kimmich, clever auf den Weg geschickt von James Rodríguez.

Cristiano Ronaldo? Der Weltfußballer in Diensten der Königlichen? Hatte kaum Szenen. Kurz vor der Pause überlegte er einen Moment, ob er es per Fallrückzieher versuchen soll, so wie jüngst im Viertelfinale gegen Juventus Turin. Es blieb bei einem Zucken. Aber dieses Zucken reichte schon, um die Bayern für einen Moment abzulenken. Und Marcello schoss den Ball ins Tor.

In der zweiten Halbzeit wehrten sich die Münchner, Ribéry scheiterte an Navas (59.); Müller brachte den Ball aus kürzester Distanz nicht über die Linie (68.). Es half alles nichts mehr, obwohl Ronaldo, der einen Gegner auch mal ganz alleine zerlegen kann, nicht einmal dabei mitmachte, den Bayern diese Wunde zuzufügen. Ein Tor, das wegen Handspiels nicht zählte (70.), mehr nicht. "Wir haben gewonnen. Ich weiß nicht, ob verdient, aber wir haben gewonnen", sagte Real-Coach Zinédine Zidane. Das sagt eigentlich alles.

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