Champions League: Inter Mailand:4-2-Fantasia

Trainer Leonardo hat Bayern-Gegner Inter ein anderes Gesicht verliehen. Im neuen Spielsystem herrscht hinten Kontrolle und vorne Freiheit. Er bewirkt damit das Gegenteil von Vorgänger José Mourinho.

Birgit Schönau

Leonardo Nascimento de Araùjo hat bei Inter einen besseren Start hingelegt als José Mourinho. Neun Siege in elf Spielen, ein Durchschnitt von 2,4 Punkten, das ist ein glänzender Auftakt für den 41-jährigen Brasilianer, der gar nicht Trainer werden wollte und wenn doch, dann höchstens in England, "wo die Trainer Manager sind und nicht einfach Erfüllungsgehilfen". Stattdessen ist Leonardo nun bei seiner zweiten Station in Mailand, gewechselt vom Hofe des Absolutisten Silvio Berlusconi ins Königreich des fußballverrückten Erdölmagnaten Massimo Moratti.

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Hat die Spielweise von Inter Mailand komplett verändert: Trainer Leonardo.

(Foto: AFP)

Dieser gilt zwar als vergleichsweise liberaler Alleinherrscher, aber die Art und Weise, wie Moratti nach nur wenigen Monaten im vergangenen Dezember Trainer Rafael Benítez ins Aus bugsierte, beweist das Gegenteil. Ins Champions-League-Achtelfinale zieht Inter nun also nicht, wie sie beim Konkurrenten FC Bayern nach der Auslosung noch gehofft hatten, mit dem glücklosen Spanier, sondern angeleitet vom strahlenden Brasilianer Leonardo.

Moratti will Resultate sehen, Leonardo bringt sie. Und wenn er einmal verliert, wie zuletzt gegen Juventus Turin, so bringt er seinen Boss dazu, das Positive in der Niederlage zu sehen: "Die zweite Halbzeit war vielversprechend, oder?" Mourinho war ein Feldherr, Leonardo gibt den Interisti das Gefühl, sie hätten einen Künstler in ihren Reihen, der seine Mannschaftsaufstellungen mit großzügigen Pinselstrichen entwirft. Schluss mit Nussknackerfußball, jetzt kommt 4-2-Fantasia, hinten Kontrolle und vorne die Freiheit. Schließlich ist der Neue Weltmeister (1994, allerdings sah Leonardo im Achtelfinale Rot) und Finalteilnehmer 1998. Ein Bilderbuchbrasilianer. Als Spieler war er selbst ein Feinzirkler, seine Pässe und Freistöße wie hingemalt, ein Universaltalent in der Offensive.

Inter hat entschlossenere Trainer gehabt, so smart wie der junge Mann aus Brasilien ist keiner. Die Spieler mögen ihn, die Fans lieben ihn, die Gärtner, Köche und Ballwarte verehren ihn, überwältigt von seiner Freundlichkeit, seinen Manieren, seinem Lächeln. Mourinho hatte innerhalb von einer Woche in der italienischen Fußballwelt mehr Feinde als Freunde, Leonardo hat sich in 13 Jahren als Spieler und später Trainer beim ACMailand nur einen einzigen Feind gemacht: Silvio Berlusconi. Als Berlusconi ihn 2009 als Nachfolger des Milan-Urgesteins Carlo Ancelotti anheuerte, besaß Leonardo das Image eines Ja-Sagers, kantenlos glatt wie ein Schauspieler aus einer Telenovela. In Wirklichkeit war er als Verantwortlicher der Transferabteilung lediglich nie direkt mit dem Präsidenten aneinandergeraten. Leonardo hatte Kakà, Pato und Thiago Silva nach Mailand geholt, jetzt sah er sich dem Diktat seines Arbeitgebers ausgeliefert.

Held des Antiberlusconismus

Dabei ließ er seine Mannschaft genau so spielen, wie Berlusconi es öffentlich immer verlangt hatte: offensiv, phantasievoll, sorglos. Er besiegte als erster Milan-Trainer im Bernabeu-Stadion Real Madrid, andere Siege blieben indes aus. Berlusconi begann, gegen Leonardo zu sticheln, wie es seine Art ist: im Fernsehen, in der Kabinettsrunde. Der Medienzar weiß, dass die Gerüchte einen Menschen viel endgültiger ins Abseits stellen können als ein klärendes Gespräch, mit Leonardos Vorgängern hatte sich diese Strategie stets als höchst effizient erwiesen.

Tatsächlich ging der Brasilianer entnervt von selbst. Aber er ging Türen schlagend. "Nach so vielen Jahren bei Milan hätte ich niemals wegen fachlicher Differenzen gekündigt", stellte er klar, "ich bin wegen der Differenzen in Stil und Charakter gegangen. Das habe ich Berlusconi auch gesagt. Aber einem Narziss kann alles das, was nicht sein Spiegelbild sein will, nicht gefallen."

Diese Sätze machten Leonardo im Sommer 2010 über Nacht zu einem Helden des Antiberlusconismus. Er hätte vermutlich Oppositionsführer werden können, wenn er es nur gewollt hätte, schließlich ist er längst italienischer Staatsbürger und spricht mit vier Fremdsprachen genau vier mehr als die meisten italienischen Politiker. Doch an Heiligabend war er bei Inter für einen Job unter Vertrag, gegen den die Aufgabe des Berlusconi-Herausforderers vergleichsweise gemütlich ist: Nachfolger von José Mourinho. Und Vorgänger, mutmaßten gleich die Medien, die sich die One-Man-Show des portugiesischen Exzentrikers zurückwünschen. Mourinho hatte mit Inter zum ersten Mal nach mehr als 40 Jahren den Landesmeisterpokal gewonnen, Leonardo aber ist als Trainer ein blutiger Anfänger, das Einzige, was er mit dem Über-Mou gemeinsam hat, ist der Akzent.

Rafael Benítez hatte so getan, als könne er Mourinhos Schatten ignorieren, Leonardo vermied diesen Fehler. Er stellte sich einfach mitten in den Schatten hinein und säuselte: "Man kann bei Inter nicht an José vorbei. Er ist genial, er hat Inter so viel gegeben. Sein Geist ist hier immer noch präsent." Sprach's, packte Mourinhos Geist in die Wäschekammer und machte alles anders. Mou hatte seine Angreifer in die Abwehr kommandiert? Leonardo lässt sie fliegen, notfalls losgelöst vom Mittelfeld.

Mou konnte sich blind auf seine Hintermannschaft um Lúcio und Walter Samuel verlassen? Leonardo kommt auch ohne die Nussknacker aus. Mou hatte für seine stärksten Gegenspieler, Messi voran, "Käfige" der Defensive eingerichtet, die jede Bewegung unmöglich machten? Leonardo vertraut darauf, ein Tor mehr als der Gegner zu erzielen, das 5:3 gegen den AS Rom war für ihn die perfekte Partie. Innerhalb von wenigen Monaten hat es der Anfänger auf der Bank geschafft, Inter ein vollkommen neues Gesicht zu verleihen. Aber die Siegesgewissheit ist einer neuen Unsicherheit gewichen. Gefragt nach seiner Prognose für das Achtelfinale sagte Klubpräsident Massimo Moratti nur: "Hoffen wir das Beste."

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