Ter Stegen im Champions-League-Finale:Noch neuer als Neuer

Marc-Andre ter Stegen

Hoch geschätzt in Barcelona: Marc-André ter Stegen.

(Foto: dpa)
  • Marc-André ter Stegen will das Champions-League-Finale zur Eigenwerbung nutzen.
  • Er könne der Torwart "für die nächsten 15 Jahre werden", sagen sie in Barcelona.
  • Doch noch fehlt ihm etwas Schlachtenerfahrung.

Von Christof Kneer

Uwe Kamps weiß nicht mehr genau, wer der Gegner war, aber an die Situation kann er sich noch gut erinnern. Es gab Torabstoß für Mönchengladbach, Marc-André ter Stegen legte sich den Ball hin, lief an, er wollte den Ball mit dem rechten Fuß nach vorne spielen. Mitten im Anlauf registrierte er, dass der Gegner sein Zielobjekt identifiziert und zugestellt hatte, also machte er einen Schlenker und schlug den Ball mit dem anderen, dem linken Fuß auf die gegenüberliegende Seite des Feldes. Dort landete der Ball kurz darauf bei einem neuen Zielobjekt, zentimetergenau.

Das könne "wahrscheinlich kein anderer Torwart auf der Welt", sagt Uwe Kamps, der Torwarttrainer von Borussia Mönchengladbach, der ter Stegen jahrelang trainiert hat. Ob bei Torhütern der rechte oder linke Fuß besser ist, diese Frage hat in Deutschland jahrzehntelang kein Mensch gestellt, aus zwei Gründen: Erstens hatten Torhüter meist gar keinen stärkeren Fuß, es waren beide gleich schwach. Und zweitens war das total egal. Wichtig war, dass der Torwart zwei starke Hände und Fäuste besaß sowie einen einwandfreien Kopf, der sich bei Bedarf aus- und einschalten ließ. Ausschalten, um sich furchtlos ins Getümmel zu stürzen. Und einschalten, um das Spiel auf seine Seite zu zwingen.

Marc-André ter Stegen, 23, ist auch ein deutscher Torwart, aber er ist gleichzeitig ein deutscher Feldspieler. Und auf jeden Fall ist er der einzige Deutsche, der am Wochenende am größten Spiel teilnimmt, das der europäische Vereinsfußball im Angebot hat. Beim favorisierten FC Barcelona wird er im Champions-League-Endspiel gegen Juventus Turin einerseits den Torwart geben, er wird sich auf den Boden schmeißen und den Ball mit den Händen anfassen. Aber gleichzeitig wird er Barcelonas hinterster Spielmacher sein.

"Zu Marcs Fähigkeiten zählt es auch, dass er blitzschnell einen Pass nach links spielen kann, wenn er merkt, dass der Gegner sich gerade auf die rechte Seite verschoben hat", sagt Kamps: "Marcs Spiel trägt dazu bei, dass man einen Gegner in einem unsortierten Moment erwischen kann."

Auf der anderen Seite des Feldes wird am Samstagabend Gianluigi Buffon stehen, er ist 37, erst 37, wie man wohl sagen muss, weil es einem so vorkommt, als habe er schon bei der WM 1982 das italienische Tor gehütet. "Buffon", das war anderthalb Jahrzehnte lang jener Name, den die jungen Torhüter andächtig raunten, wenn sie nach ihren Helden gefragt wurden, und es spricht für ter Stegens professionelle Höflichkeit, wenn er Buffon "einen tollen Torwart, eine Legende" nennt.

Aber natürlich weiß ter Stegen: Buffon ist ein Torwart von gestern, der immer noch gut genug ist, um sich im Heute zu behaupten. Buffon ist damit das Gegenteil von ter Stegen. Ter Stegen ist der Torwart von morgen, der schon gut genug ist, um im Heute auf sich aufmerksam zu machen - wie in den beiden Halbfinal-Spielen gegen den FC Bayern. Beim FC Bayern wiederum spielt jener Mann, der das Verbindungsstück zwischen Buffon und ter Stegen darstellt: Manuel Neuer, 29, der stilbildende Torwart der Gegenwart.

Manuel Neuer ist schuld, dass Fans und Medien in Barcelona vor einem Jahr ein bisschen schräg geschaut haben, als ter Stegens Wechsel bekannt wurde. Das konnte ja gar keiner sein: nur zwölf Millionen teuer und nicht mal Nationaltorwart. Inzwischen haben sie in Barcelona aber gelernt, dass es keine Schande ist, Neuer nicht verdrängen zu können. Und die ersten in Barcelona ahnen bereits, dass sie vielleicht sogar jenen Torwart im Verein haben, dem das irgendwann mal gelingen könnte.

Natürlich fehlt ter Stegen noch Neuers Schlachtenerfahrung, es fehlt ihm der Nachweis von Neuers sagenhafter Coolness und Konstanz auf großer Bühne, aber zumindest in der Theorie ist ter Stegens Spiel sogar noch ein bisschen neuer als das von Neuer. "So beidfüßig wie Marc ist kaum ein anderer Torwart auf der Welt", sagt Uwe Kamps. Ein paar kurze Hörproben genügen, um zu erfahren, welchen Ruf sich dieser Torwart inzwischen auch bei denen erspielt hat, auf die es ankommt.

Messi witzelt, ter Stegen spiele den Ball "noch besser als ich"

Lionel Messi hat kürzlich gewitzelt, ter Stegen spiele "den Ball noch besser als ich". Und Barcelonas Gewissen, der ewige Xavi, hat gerade die Prophezeiung gewagt, dieser Deutsche könne "Barças Torwart für die nächsten 15 Jahre werden".

Die Frage ist halt nach wie vor nur, wann diese 15 Jahre endlich beginnen.

Ter Stegen ist nun am Ende einer Saison angelangt, die so ungewöhnlich ist wie sein ultramodernes Spiel. Er könnte, nachdem er mit dem FC Barcelona gerade erst den spanischen Pokal geholt hat, gegen Juventus sein persönliches Double gewinnen. Zum Triple würde ihm allerdings ein entscheidendes Detail fehlen: ein Einsatz in der spanischen Liga. In der Liga, die Barcelona ebenfalls siegreich beendet hat, spielt der Chilene Claudio Bravo, 32, den der neue Trainer Luis Enrique im vergangenen Sommer kurzfristig holen ließ - der entlassene Vorgänger Gerard Martino hatte ter Stegen als Stammkeeper eingeplant. Die Folge war jene groteske Arbeitsteilung, die den monströs ehrgeizigen ter Stegen sogar dann nerven würde, wenn er am Samstag sein persönliches Double gewinnt.

Ter Stegen hat alle acht Pokal- und sämtliche zwölf Champions-League-Spiele bestritten, mit dem Finale in Berlin kommt er auf 21 Pflichtspiele. "Mit ein paar Testspielen fühlt sich das fast so an wie eine vollständige Bundesliga-Saison", sagt Uwe Kamps, aber er weiß, dass das seinem Sportler nicht genügt: "Marc ist einerseits zufrieden, weil er bei einem großen Klub im ersten Jahr sofort angekommen ist, andererseits will er immer spielen."

Vielleicht wird ter Stegen in dieser Saison aber doch noch sein persönliches Triple gewinnen, nach dem Finale reist er weiter zur deutschen U21, die bei der Junioren-EM in Tschechien zu den Favoriten zählt. Ein gelungenes Champions-League-Finale und eine gelungene U21-EM könnten Luis Enrique durchaus auf die Idee bringen, seinen Teilzeit-Neuer in der nächsten Saison noch häufiger ins Tor zu stellen.

Je häufiger ter Stegen spielt, desto eher hat die Welt auch die Chance zu erfahren, welcher Fuß der stärkere ist. Uwe Kamps, sein langjähriger Torwarttrainer, tippt auf den rechten.

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