Champions League:Dortmunds Stil muss man sich erst mal trauen

Champions League: Mutig gegen Real: Dortmunds Raphael Guerreiro (links).

Mutig gegen Real: Dortmunds Raphael Guerreiro (links).

(Foto: AP)

Wer gegen Real Madrid ein Remis holt, den kann so schnell nichts umhauen. Bis zu den großen Spielen hat der BVB sogar noch Potential.

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Die Schmerzen spielten keine Rolle mehr, das rechte Knie war längst mit einem Eisschwamm bandagiert und kalt gestellt, und André Schürrle gab ein Interview nach dem anderen. Strahlend, entspannt, gut gelaunt. Kann sein, dass sein später Schuss zum 2:2-Ausgleich gegen Real Madrid für eine Weile wieder der letzte war, den er für Borussia Dortmund abgegeben hat, weil sich seine gerade überstanden geglaubte Knieverletzung offenbar heftig zurückmeldete. Aber dieses Tor gegen Real wollte der Nationalspieler auskosten, als bedeutenden Schlusspunkt unter die glücklosen Zeiten, die er in Wolfsburg und beim FC Chelsea durchgestanden hat.

André Schürrle hat dem BVB mit einem brachialen Schuss gegen den Titelverteidiger Real Madrid einen Punkt gerettet, der in der Gruppenphase der Champions League noch sehr wichtig werden kann. Aber bei allem Überschwang über sein Willkommens-Tor klang der Nationalspieler durchaus auch kritisch, ähnlich wie der Rest seiner Mitspieler: "Wir feiern diesen Punkt nicht", sagte er, "weil wir mehr hätten erreichen können."

Auch Schürrles Trainer Thomas Tuchel war am Ende des hochklassigen Treffens mit Madrid zwiegespalten, ob er sich über den späten Punktgewinn gegen eine der aktuell stärksten Mannschaften im Wettbewerb freuen sollte. "Die Mannschaft war schon in der Halbzeitpause seltsam unzufrieden", erzählte Tuchel später, "weil viele den Eindruck hatten, dass einfach noch mehr drin war, wenn wir die Chancen konzentrierter genutzt hätten."

BVB kann von der Bank aus erstaunlich nachlegen

Am Ende, als Dortmunds junge Mannschaft zwei Rückstände gegen das ungemein abgeklärt wirkende Künstler-Ensemble aufgeholt hatte, überwog bei den meisten aber doch die Freude. Für Schürrle war sein Tor, drei Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit, ganz offenbar so etwas wie die innere Bestätigung, endlich das Richtige zu tun. "Ich fahre jeden Tag zum Training und stelle fest, dass ich mit einem Lächeln im Auto sitze. Ich fühle mich einfach unheimlich wohl hier."

Thomas Tuchel, von dem man weiß, dass er sich persönlich um die Verpflichtung des teuren Schürrle (über 30 Millionen Ablösesumme) bemüht hatte, bestätigte nach dem Spiel, dass der 25-Jährige ein Spieler sei, "der jeden Tag eine gewisse Nähe, einen Austausch mit seinem Trainer braucht". Er müsse Schürrle nicht jeden Tag loben und über den Kopf streicheln, er könne ihm auch etwas Kritisches sagen, ihm Handlungstipps geben. Hauptsache sei, Schürrle bekomme Rückmeldung und fühle Teilnahme; Schürrle brauche das "mehr als mancher andere Spieler".

Für Dortmunds Publikum, aber vermutlich auch für Zinédine Zidane, den Coach der Madrilenen, war es durchaus überraschend, wie sehr der BVB im Laufe dieses enorm intensiven Spiels von der Bank aus nachlegen konnte. Schürrle etwa war nach gut einer Stunde für seinen Freund Mario Götze aufs Feld gekommen - ein Weltmeister kam für den anderen. Zwar hinterließ die Auswechslung von Götze eine Zeit lang ein gewisses Strukturproblem im Borussen-Zentrum, was dafür spricht, dass der Dortmund-Rückkehrer im Subtext des BVB-Spiels schon wieder eine wichtige Rolle spielt - auch wenn ihm Tore oder andere spektakuläre Aktionen noch abgehen und er ein Spiel wie gegen Real kräftemäßig zurzeit nur etwa eine Stunde durchhält. Nach einer Weile bekam an Götzes Stelle aber der Portugiese Raphael Guerreiro das Spiel im Zentrum in den Griff.

Zeitweise eine Ballbesitz-Quote zwischen 60 und 70 Prozent

Für Tuchel, der später einräumte, dass er sich als Jugendtrainer nicht einmal im Traum in einem Spiel gegen Real Madrid gesehen hätte, war die Erkenntnis des Abends deshalb auch diese: Seine Mannschaft kann bereits jetzt, nach nur wenigen Spielen in der neuen Formation, gegen einen der stärksten Gegner im Weltfußball mithalten - ohne größeren Niveau-Unterschied. Zeitweise zeigten die Daten für den BVB eine Ballbesitz-Quote zwischen 60 und 70 Prozent - und hätte Real-Torwart Keylor Navas nicht einen fast unhaltbaren Schuss von Guerreiro abgewehrt, der BVB hätte womöglich gewonnen.

Auch die eingewechselten Christian Pulisic, 18, und Emre Mor, 19, gaben später Kostproben ihres Könnens und Selbstvertrauens, vergleichbar mit dem deutlich erfahrenen Schürrle. A-Junioren-Spieler Pulisic war es auch, der Schürrle nach rasantem Alleingang mit der Vorlage zum Tor versorgt hatte. Zuvor hatte Aubameyang nach einem vertrackten Freistoß von Guerreiro den Ball zum zwischenzeitlichen 1:1 über die Linie bugsiert. Für Real trafen Cristiano Ronaldo und der herausragende Innenverteidiger Raphael Varane.

Nach dem Verlust der Achse Mats Hummels/Ilkay Gündogan/Henrikh Mkhitaryan galt das Gruppenspiel gegen Real als erste große Bewährungs- und Belastungsprobe für die neue BVB-Elf. Mehr Einzelkönner als bei Madrid wird Dortmund in dieser Saison ja kaum mehr antreffen: Ronaldo, Bale, Benzema, Kroos, Modric, James. Wer gegen dieses Offensiv-Sextett nach einem wilden Spiel ein Unentschieden holt, der ahnt, dass ihn so bald nichts mehr umhauen wird. Tuchels junge Wilde, allen voran Julian Weigl und Raphael Guerreiro, wollten das Spiel mit offensiver Wucht tatsächlich selbst dominieren, das muss man sich erst mal trauen. Auch Reals Toni Kroos räumte ein, dass der BVB in der ersten Halbzeit das Spiel diktiert habe. "In der zweiten Halbzeit haben wir uns davon ein bisschen besser befreien können."

Vielleicht hätte Real, wenn es schon um ein Halbfinale gegangen wäre, den offenen Schlagabtausch am Ende für sich entschieden. Aber bis zu den wirklich großen Spielen im Frühjahr haben Tuchel, Schürrle, Götze und all die jungen Wilden noch über ein halbes Jahr Zeit, um sich noch einmal weiterzuentwickeln. Junge Hochbegabte lernen schnell, und irgendwann sind Götze, Schürrle und auch Marco Reus dann vielleicht mal richtig fit.

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