Campo Bahia:Wo Toni Kroos dem Konzert der Tropenvögel lauschte

Campo Bahia: Die prominenten Gäste, die im Campo Bahia während der WM 2014 logierten, haben Spuren hinterlassen.

Die prominenten Gäste, die im Campo Bahia während der WM 2014 logierten, haben Spuren hinterlassen.

(Foto: Campo Bahia/obs)
  • Im Weltmeister-Quartier Campo Bahia lässt sich spüren, was dem DFB-Team bei der WM 2018 in Watutinki fehlte.
  • In Brasilien wurden die Spieler vom Konzert der Tropenvögel geweckt. Auch deshalb vermissten sie im russischen Quartier jegliche Magie.
  • Doch auch beim Campo Bahia gab es anfangs Vorbehalte.

Von Boris Herrmann, Santo André

Häuptling Siratãn vom Stamm der Pataxó hat die schwarze Stunde des deutschen Fußballs in schwarzer Kriegsbemalung verfolgt. Hier und da waren auch goldgelbe Streifen in seinem Gesicht zu erkennen, einige besonders festlich geschmückte Stammesbrüder mischten noch rote Elemente bei. Schwarz, Rot sowie ein golden leuchtendes Gelb, das sind die traditionellen Farben der Pataxó. Sie sahen schon aus wie Deutschlandfans, bevor der Fußballgott den DFB erschuf.

Zum dritten deutschen Gruppenspiel hatten sich die Pataxó vor einem Fernseher unter einem Strohdach versammelt. Die meisten saßen auf Backsteinen, der Häuptling auf einem Plastikstuhl. Mitte der zweiten Halbzeit zündete er sich eine Pfeife an, in der Nachspielzeit ließ er sich seinen Federschmuck bringen. Es waren Versuche, seine Götter zu beschwören, vielleicht würden sie einen Weg finden, den verdammten Ball im südkoreanischen Tor unterzubringen. An Siratãn hat es jedenfalls nicht gelegen, dass die Deutschen ausgeschieden sind. Nach dem Abpfiff sagte er: "Heute sind wir ein trauriges Volk."

Es gibt neben der rein zufälligen farblichen auch eine emotionale Verbindung. Die Pataxó aus dem brasilianischen Bundesstaat Bahia sind vor vier Jahren nämlich auch ein bisschen Weltmeister geworden. So sehen sie das. Nach dem Finale im Maracanã tanzten die deutschen Spieler um ihren WM-Pokal so oder so ähnlich, wie die Pataxó es ihnen beigebracht hatten. Siratãn, der damals noch ein junger Häuptlingsanwärter von 25 Jahren war, traute seinen Adleraugen nicht, als er diese Bilder im Fernsehen sah. "Das hat uns viel Respekt verschafft, vor allem unter den Brasilianern", erzählt er.

Die Pataxó werden, wie fast alle indigenen Völker dieses Landes, seit Jahrhunderten unterdrückt, bedroht, vernachlässigt. Große Teile ihres ursprünglichen Landes hat man ihnen gestohlen, viele ihrer Vorfahren wurden massakriert, heute leben sie in ganz Bahia verteilt in kleinen, eingezäunten Reservaten. Aber an jenem glorreichen Tag im Juli 2014 waren sie plötzlich die Indianer, die mit den deutschen Weltmeistern getanzt hatten. Abgesehen von der korrekten Umlautsetzung erinnert sich Siratãn noch an fast jedes Detail: "Muller war am lustigsten, aber ich mochte auch Toni Kröss und diesen Riesen aus der Abwehr." Mertesacker? "Genau." Lang ist es her.

Plötzlich sah es wie ein Fest der Verbrüderung aus

Die Pataxó und die deutschen Spieler hatten sich kurz vor dem Turnierstart persönlich kennengelernt. Es spielte für den weiteren Verlauf der Geschichte keine Rolle, dass dieses Treffen zu einer wohlkalkulierten DFB-Charmeoffensive gehörte. Die Indianer wurden samt Federkleidern, Baströcken und Rasseln zum Trainingsplatz von Santo André gekarrt, auf dem die Nationalmannschaft gerade eine ihrer ersten Übungseinheiten beendet hatte. Die Tanzstunde begann mit beidseitigem Fremdeln, aber erstens hatte Miroslav Klose Geburtstag (er wurde 36) und zweitens wollte er nicht unhöflich sein, also fasste er sich ein Herz, trat in die Mitte der bunten Gruppe und begann rhythmisch zu klatschen.

Bald stiegen auch Mertesacker, Podolski, Müller und all die anderen ein. Und plötzlich sah es wie ein Fest der Verbrüderung aus, Fernsehkameras trugen diese Szenen umgehend in die Welt. "Damit haben sie Brasilien erobert", sagt Siratãn. Am nächsten Tag kürte die lokale Presse das DFB-Team zur "sympathischsten Mannschaft des Turniers". Es war der Moment, als dem letzten Nörgler klar wurde: Die Deutschen hatten alles richtig gemacht mit der Auswahl ihres WM-Basislagers, des Campo Bahia.

7000 Traumfänger und 7:1 - ein klarer Zusammenhang

Die Pataxó glauben fest an die Bedeutung von Farben, Zahlen und heiligen Orten. Und wenn sich ihr freundlicher Häuptling so kurz nach der Schmach von Kasan eine deutsche WM-Bilanz erlauben darf, dann möchte er zum einen auf diese grünen Trikots verweisen ("Das ist doch nicht die Farbe von Deutschland, wie willst du damit gewinnen?") und zum anderen auf jene 7000 handgefertigten Traumfänger, welche die Pataxó vor vier Jahren auf Vorabbestellung ins Campo Bahia geliefert hatten. 7000 und 7:1, er sieht da einen klaren Zusammenhang. Dieser Ort, seine Magie und das zauberhafte Spiel seiner Bewohner, all das bildete damals eine logische Einheit, findet Siratãn: "Diesmal haben sie offenbar keinen Wert darauf gelegt, und schon ging es schief." Besser kann man das Desaster des bürokratischen Watutinki-Fußballs kaum zusammenfassen.

Analytisch leuchtet das auch deshalb ein, weil der DFB ja grundsätzlich offen ist für übernatürliche Zusammenhänge. Gerade die Quartiersfrage wird traditionell wie eine Schicksalsfrage behandelt. Einige ehemalige WM-Unterkünfte des Nationalteams sind heute so berühmt wie ihre Ehrenspielführer. Dazu gehört natürlich das Hotel Belvédère, in dem die Helden von 1954 Bekanntschaft mit dem sogenannten Geist von Spiez machten. Die Weltmeister um Beckenbauer verhalfen 20 Jahre später dem Sportsgeist von Malente zu ungeahntem Ruhm. Auch das Castello di Casiglio im lombardischen Erba (1990) und das Schlosshotel Grunewald (2006) sind auf ihre Weise legendär. Vom Hotel Velmore Grande in Südafrika (2010) ist immerhin nichts Schlechtes in Erinnerung geblieben, vielleicht mal abgesehen von dem kleinen Frosch, der kurz vor Turnierbeginn bäuchlings im Pool trieb. Es wird aber ein Rätsel bleiben, was den DFB dazu bewegte, sich 2018 im Heilkomplex Watutinki vor den Toren Moskaus einzuquartieren.

An diesem Ort mit dem Charme einer Sowjet-Kaserne war die Stimmung von Anfang an so magiefrei, dass sich führende Nationalspieler bereits beim Einzug auf den Auszug freuten. Genauso spielten sie dann auch. Legendär werden vor allem die strengen Blicke des Watutinki-Wachpersonals bleiben, von denen man sich noch im 10 000 Kilometer entfernten Santo André beobachtet fühlte.

"Das Ambiente darf nie im Leben eine Ausrede sein", diese Regel hatte Toni Kroos vor dem Turnier in Russland aufgestellt. Im Nachhinein klingt es, als habe er das Unheil schon geahnt. Und auch wenn sich jetzt nicht alle Schuld auf diesem Ambiente abladen lässt, so war es zumindest auch keine Hilfe. Wer aber eine WM gewinnen will, der braucht offenbar einen Quartiergeist.

Ein Konzert der Tropenvögel zum Aufwachen

Der Geist von Campo Bahia, man meint ihn auch vier Jahre später noch zu spüren, wenn man etwa in der Suite 0102 eincheckt, dem Zimmer, das damals ebendieser Kroos bewohnte. Vom Balkon aus kann man abends den Mond über dem Atlantik aufgehen sehen, wenig später kommt eine Dame vom Roomservice, zieht die Vorhänge zu, rollt die Tagesdecke ein, knipst das Nachttischlämpchen an und sagt so freundlich, wie es nur Brasilianerinnen aus Bahia können, "Gute Nacht". Am nächsten Morgen wird man von einem Konzert der Tropenvögel geweckt. Der höchstens einen Timo-Werner-Sprint entfernte Strand ist in beide Richtungen bis zum Horizont unberührt. Wenn man sich an diesem Ort überhaupt wegen irgendetwas sorgen muss, dann wegen herabfallender Kokosnüsse.

Selbst für Gäste, die sich in Hotelzimmern gerne mit Andenken versorgen, ist der Service exzellent. Einer Preisliste lässt sich entnehmen, was sich wirklich lohnt: Fernbedienung 120 Reais, Klodeckel 250, Gardine 600, Bettdecke 1000. Vor vier Jahren musste man ungefähr durch drei teilen, um auf den Gegenwert in Euro zu kommen. Von den kostbaren Gemälden, die der soeben aus der Haft entlassene Düsseldorfer Kunstberater Helge Achenbach einst organisiert hatte, hängen inzwischen aus Sicherheitsgründen nur noch Kopien.

Allein die Kroos-WG hatte in Brasilien neun Tore erzielt

Überhaupt ist das Campo Bahia neben einem "Sport- und Naturressort" ja auch immer ein Kunstprojekt gewesen. Der Fotokünstler Claus Föttinger beschreibt die von ihm gestaltete Poolbar im vor Ort erhältlichen Projektkatalog als die "Idee, die Bar als Medium für social engineering, social sculpturing und den erweiterten Kunstbegriff zu verwenden, um den jeweiligen Zustand der Gesellschaft zu beschreiben". Kein Wunder, dass sich die deutschen Nationalspieler hier so gut amüsiert haben.

Höchst erstaunlich wiederum ist, wie es dieses 15 000 Quadratmeter große Areal in den Katalog der "Small Luxury Hotels of the World" geschafft hat. Wahrscheinlich muss die Reihe "Very big Luxury Hotels" erst noch erfunden werden. Jeweils sechs Nationalspieler teilten sich eine der 14 Strandvillen, Kroos beispielsweise mit Klose, Schürrle, Mustafi, Weidenfeller und Götze. In Russland spielte keiner seiner Mitbewohner mehr mit. Allein die Kroos-WG hatte in Brasilien aber neun Tore erzielt, sieben mehr als diesmal ganz Deutschland 2018. Auch daran sieht man, dass sich beim DFB nicht alles zum Besten entwickelt hat.

Dem Campo Bahia erging es in der Zwischenzeit übrigens auch nicht viel besser als seinen berühmtesten Gästen. 120 Menschen können hier gleichzeitig beherbergt und verwöhnt werden, in der Nacht vor dem deutschen Abschiedsspiel von der WM 2018 ist genau ein Bett belegt, das von Kroos. Klar, im Juni ist Nebensaison in Bahia, aber für ein Haus mit 80 Angestellten muss sich eine Nacht mit einem Gast ungefähr so anfühlen wie ein 0:2 gegen Südkorea. "Vielleicht haben wir nach dem WM-Sieg das Momentum verpasst" sagt Iracema Keseberg, die Marketingdirektorin des Hotels: "Wir dachten, das läuft jetzt ganz von alleine." Worte, die auch genauso von einer aktuellen DFB-Pressekonferenz stammen könnten.

In der besonders beeindruckenden Pool- und Badelandschaft langweilen sich jetzt zwei aufblasbare Riesenschwimmenten, die genau genommen ein Schwimmflamingo und ein Schwimmeinhorn sind, jedenfalls groß genug, um die gesamte deutsche Viererkette ans andere Ufer zu bringen. Beim Abendessen zwischen 20 komplett eingedeckten Tischen, drei Köchen und vier Kellnern kommt man sich vor wie bei "Dinner for One", das "Entrecôte Campo Bahia" schmeckt trotzdem vorzüglich. Auch der Barkeeper an der "WM-Bar" gibt sich aufrichtig Mühe, Normalbetrieb zu simulieren. Ganz sicher ist er sich nicht, ob er verraten darf, dass hier schon deutsche Nationalspieler mit Caipirinhas verköstigt wurden, "aber höchstens ein, zwei" nach der Rückkehr von siegreichen Spielen. "Und spätestens um Mitternacht hat Joaquim dann gesagt: Ab ins Bett!"

Dass sich ein südbadischer Genussmensch wie Joaquim Löw hier wohler fühlte als in Watutinki, das hätte man auch erahnt, wenn er es nicht so laut gesagt hätte. Im Campo Bahia war er damals zur besten Trainerform seiner Karriere aufgelaufen. Und noch heute schwärmen die Köche und Kellnerinnen, die Bar- und Greenkeeper, die Wachleute und Shuttle-Fahrer von diesem entspannten, klugen und witzigen Mann. Zu seinem vielleicht letzten Spiel als Bundestrainer versammelte sich das Hotelpersonal vor dem Fernseher an der Poolbar. Alle trugen das gleiche T-Shirt, halb brasilienfarben, halb deutschlandfarben, mit der Aufschrift: "Cabrália, Weltmeisterstadt von 2014". Santa Cruz Cabrália heißt der Ort auf der anderen Seite des Flusses, von dem das nur per Fähre erreichbare Fischerdorf Santo André verwaltet wird.

Seit der letzten Trainingseinheit der Nationalmannschaft im Juli 2014 hat hier niemand mehr gekickt

Dass Liebe so schnell nicht vergeht, gerade in schwierigen Zeiten, auch davon erzählt die Geschichte dieses WM-Quartiers. Wenn man heute mit der Fähre über den Rio João de Tiba schippert, neben Autos, die so viele Bananen im Innenraum transportieren, dass der Fahrer nicht zu erkennen ist, dann sieht man auch das ehemalige DFB-Ausflugsschiff Dreamcatcher im Hafen schaukeln. Der Fährmann, obschon bekennender Anhänger der brasilianischen Seleção, nennt es huldvoll den "Sieben-zu-eins-Schoner".

Zur ganzen Wahrheit gehört aber, dass es auch beim Campo Bahia anfangs viele Vorbehalte gab, von denen keineswegs alle ausgeräumt werden konnten. Nicht jedem erschloss sich, weshalb der DFB nicht wie die anderen WM-Teilnehmer in eine der offiziellen Teamunterkünfte ziehen wollte, sondern sich von dem Münchner Mode- und Immobilienunternehmer Christian Hirmer diesen Luxusvillenkomplex in die Sumpflandschaft von Santo André bauen ließ. Binnen fünf Monaten musste alles fertig werden, es gab Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten beim Bau, wie üblich in Brasilien. Hirmer und sein ehemaliger Projektpartner haben sich in der Zwischenzeit so verkracht, dass sie sich vor dem Landgericht München wieder trafen.

Einige der 800 Einwohner des bis dahin recht verschlafenen Santo André klagten derweil über Lärm, steigende Grundstückspreise und "deutsche Invasoren". Es wurde nicht besser, als für das DFB-Trainingsgelände etwas nördlich des Dorfes ein geschützter Mangrovenwald gerodet wurde. Nach der WM sollte dort laut dem Nachhaltigkeitskonzept eine "Talentschmiede für jugendliche Fußballer" entstehen. Sollte. Der Rasen, beste deutsche Rollware, ist immer noch recht gut in Schuss. Aber seit der letzten Trainingseinheit der Nationalmannschaft im Juli 2014 hat hier niemand mehr gekickt. Das ganze Gelände ist mit Stacheldraht eingezäunt, Zutritt verboten. Von der Straße aus sieht man nur die Spitzen der Flutlichtmasten. Kein Licht, keine Kabinen und keine Duschen gibt es dagegen auf dem Dorfplatz von Santo André, wo der örtliche Klub América seine Ligaspiele austrägt. Höchst erfolgreich, wie man hört. "Sind seit zehn Jahren ungeschlagen", sagt der Trainer. Tatsächlich sind es wohl eher drei Jahre - wenn man von der Niederlage am vergangenen Sonntag absieht. Immerhin, sagen sie bei América, habe der Deutsche Fußball-Bund Geld gespendet, um auf ihrem Schotterplatz einen Rasen pflanzen zu lassen. Das Geld sei dann aber schnell verschwunden. Und den Rasen haben sie dann irgendwann selbst gepflanzt.

Viel ist nicht geblieben von den großen Versprechen, die damals gemacht wurden. Trotzdem waren sie hier im Südkorea-Spiel alle für Deutschland, bis zur neunten Minute der Nachspielzeit. Genau wie die Pataxó beanspruchen auch die Spieler von América de Santo André ein kleines Stück vom Ruhm der Weltmeister für sich. Fast jeder kann eine Beziehungsgeschichte erzählen, sei es als Sambatrommler an der Poolbar, als Kabelträger fürs ZDF - oder als Ehemann der Putzfrau der Philipp-Lahm-WG. Sie hätten nur eine Bitte, falls man zufällig mal wieder bei der DFB-Zentrale vorbeikomme: Ob diese netten Deutschen vielleicht noch einen ordentlichen Ball übrig haben?

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir fälschlicherweise die Sonne im Atlantik untergehen lassen. Man kan in Campo Bahia jedoch gelegentlich abends den Mond über dem Atlantik aufgehen sehen. Wir bitten dies zu entschuldigen!

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