Die Strategie der Spieler in der Interviewzone ist es, mit ihren Aussagen die Fragen der Medienvertreter abzuhandeln, ohne dass die Antworten gegen den Verein, den Trainer oder die Mitspieler verwendet werden können. Beim Unterfangen, die Profis aus ihrer Komfortzone zu bringen, hilft es, wenn die Protagonisten auf eine Anmerkung reagieren müssen, mit der sie nicht gerechnet haben. In diesen Situationen liegt dann das Standardrepertoire an Allgemeingültigkeiten nicht vor im Kopf und der Zuhörer rückt näher ran an die wahre Gemengelage hinter den Kulissen.
Um den Eindruck des Nicht-weiter-Wissens auf der einen Seite zu vermeiden und auf der anderen auch nicht zu viel preiszugeben, lächelte Nuri Sahin am Mittwochabend erst einmal und dehnte das Wort "schon" in die beiden Silben "sch" und "on" auf, obwohl das Wort eine Trennung in zwei Silben gar nicht vorsieht. Aber die Frage war eine, die Sahin in die Bredouille brachte, weil die Antwort womöglich gegen den Trainer verwendet werden könnte. Dabei galt es für Sahin zu bedenken, dass neben ihm 67 343 Zuschauer im Wembley die Partie zwischen Tottenham Hotspur und Borussia Dortmund verfolgt hatten. Also musste der Eindruck dieser 67 343 Zuschauer ebenso mit einbezogen werden in die Überlegungen, um nicht selbst Gefahr zu laufen, irritiert angeguckt zu werden.
Trainer Bosz wählt eine zu mutige Taktik
In der Bedrängnis wählte Sahin den Weg des für ihn geringsten Widerstands und bestätigte, was jeder gesehen hatte: dass Dortmund "schschsch-ooon ein bisschen" überrascht gewesen sei von der taktischen Ausrichtung Tottenhams, weil die sonst eigentlich "extrem viel Druck" machen. Sahins Bestätigung der vorherrschenden Meinung ging allerdings auf Kosten des Trainers Peter Bosz. Denn der ist beim BVB für den Spielplan verantwortlich, mit dem die Mannschaft das erste Gruppenspiel in der Champions League am Mittwochabend in London bestritt - und 1:3 (1:2) verlor.
Nach bloß einem Sieg aus zehn Spielen im Wembley veränderte Tottenham die Herangehensweise, die den Klub unter Mauricio Pochettino in dessen vierjähriger Amtszeit bekannt gemacht hat. Die Spurs zogen sich absichtlich in die eigene Hälfte zurück und zeigten kein Interesse, die Ansehnlichkeit des Spiels zu steigern. Da konnten die Zuschauer noch so sehr rufen: "Come on, you Spurs". Für die war es ebenso ungewohnt, ihrer Mannschaft lediglich beim Verteidigen und Kontern zuzuschauen.
Der BVB hätte jetzt ebenfalls die Offensivbemühungen einstellen können und warten, bis Tottenham vor den eigenen Fans irgendwann gezwungen gewesen wäre, die Initiative zu übernehmen. Die ideologische Fußballanschauung des Niederländers Bosz ließ diese Idee jedoch nicht zu.
Im Vergleich zu seinem Vorgänger Thomas Tuchel hat Bosz den Aufenthaltsbereich des defensiven Mittelfeldspielers - in diesem Fall Sahin - nach vorne verschoben. Die Dortmunder versuchten mit ihrer Abwehrlinie so weit wie möglich ans gegnerische Tor zu rücken, ungeachtet der Stärken Tottenhams. Die Innenverteidiger standen teils in der Mitte der gegnerischen Hälfte, selbst bei Ballverlust wichen sie nicht zurück, sondern probierten oft, den Ball direkt wiederzugewinnen. Weil die Außenverteidiger ihre Bindung zu den zentralen Abwehrspielern zugunsten der Offensive aufgaben, ergab sich daraus eine Systematik, in welcher der Ball gut zirkulierte, von rechts nach links etwa, in die Mitte oder vor und zurück - bloß darf bei dieser Systematik der Ball quasi überhaupt nicht verloren gehen, was natürlich nicht umzusetzen ist.
Dortmund hat sich "locken lassen"
Die Innenverteidigung mit dem Griechen Sokratis und dem Türken Ömer Toprak ist dem Antrittstempo der meisten Stürmer nicht gewachsen. Bosz sah das Problem schon in der Anfangsphase, aber ihm war es offensichtlich egal - und den Spurs logischerweise auch. Und so erzielten Heung-min Son (4.) und Harry Kane (15./60.) die Treffer auf ähnliche Weise, jeweils ging es über Dortmunds rechte Abwehrseite, die von Lukasz Piszczek besetzt sein sollte, aber meist nicht (oder erst zu spät) besetzt war. "Beim ersten Treffer haben wir uns locken lassen", gab Sahin zu. Locken ließ sich auch Torwart Roman Bürki, der bei den ersten beiden Treffern die nahestehende Ecke nicht bewachte. Nach dem dritten Gegentreffer lag Piszczek auf dem Rasen und wollte am liebsten liegen bleiben.
Zwar beklagten die BVB-Spieler später "schwere Fehlentscheidungen" (Toprak) des Referees aus Italien, etwa wegen eines aberkannten Aubameyang-Tores, doch zum einen pfiff Gianluca Rocchi auf beiden Seiten verbesserungswürdig, zum anderen verlor Dortmund dieses Spiel nicht bloß seinetwegen. So bot der zwischenzeitliche Ausgleich dem BVB die Chance zum Umdenken, aber umgehend nach dem 1:1 drehte Bosz wieder ab zur Trainerbank, ohne Korrekturen vorzunehmen.
Sorgen um Mario Götzes Zähne
Schon beim Europa-League-Finale mit Ajax Amsterdam, dem wichtigsten Spiel seiner Karriere, weigerte sich Bosz, sein Vorhaben an das schier übermächtige Manchester United anzupassen, trainiert von José Mourinho, der sein Team immer auf den jeweiligen Konkurrenten abstimmt; selbst wenn der noch so unbekannt ist. Beim Debüt in der Champions League, dem bislang wohl zweitwichtigsten Spiel in Bosz' Karriere, wiederholte sich diese Thematik.
Die Niederlage bringt Borussia Dortmund vor dem Aufeinandertreffen mit Real Madrid zu Hause in zwei Wochen in eine ungute Ausgangslage. Die trickige Vorrundengruppe erfordert pragmatisches Handeln, und erlaubt es nicht, den eigenen Idealen zu folgen. Sonst werden die weiteren Spiele genauso schmerzhaft werden wie die Schlussminuten für Mario Götze. Nach einem Schlag ins Gesicht, für den Jan Vertonghen die gelb-rote Karte sah, lösten sich bei ihm einige Zähne. "Es tut schon weh, wenn man darüber spricht", erklärte Bosz, Götzes Einsatz in der Bundesliga gegen Köln ist fraglich. Es passte zu diesem Abend in London, dass der vorzeitig in die Kabine gehende Götze nicht ersetzt werden konnte: Dortmund hatte schon drei Mal gewechselt.
