Bundestrainer Joachim Löw:Anwalt der gescholtenen Ballbesitzer

Sind die EM-Favoriten außer Form? Mitnichten, sagt der Bundestrainer. In Danzig hält Joachim Löw eine Verteidigungsrede für den Stil der Spanier - und verteidigt damit auch seine eigene Mannschaft. Die Gegner stellen sich mit neun Mann an den eigenen Strafraum. Damit müsse man sich bei dieser EM abfinden.

Philipp Selldorf

Die deutsche Viererkette auf der Tribüne des Danziger Stadions trug vorschriftsmäßig die eleganten Hemden und Jacken des Freizeitausrüsters, Joachim Löw hatte zudem trotz Gewitterhitze einen Schal umgeschlungen. Möglicherweise wollte er damit das rot-gelbe Trikot verbergen, das er heimlich angelegt hatte. Es stammt zwar ebenfalls aus der Produktion eines DFB-Ausrüsters, hat aber keinen Adler auf der rechten Brust, sondern ein königliches Wappen mit diamantener Krone. Löw im spanischen Nationaltrikot auf der Fantribüne - so war es zwar nicht am Montagabend, als er in Begleitung von Oliver Bierhoff, Hansi Flick und Andreas Köpke dem Spiel des Welt- und Europameisters gegen Kroatien zuschaute. Aber es ist keine allzu abwegige Vorstellung.

EURO 2012 - Deutschland Training

Anwalt der Ballbesitzer: Joachim Löw.

(Foto: dpa)

Die spanische Nationalmannschaft hat der deutsche Bundestrainer fast so oft live im Stadion gesehen wie sein eigenes Team. Zweimal ist er vom Teamhotel im Vorort Oliva herübergefahren in die Danziger EM-Arena, man tut ihm nicht unrecht, wenn man diese Touren als Pilgerreisen bezeichnet. Am Tag nach dem mühseligen 1:0-Sieg gegen die Kroaten ist Löw von einem polnischen Journalisten in korrektem Englisch gefragt worden, ob er glücklich sei über den schlechten Zustand der Spanier, und der deutsche Coach schaute den Mann entgeistert an, als hätte er eine außerirdische Sprache benutzt.

Es schien so, als wolle er nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Man übersetzte ihm die Frage, und wieder schaute Löw indigniert. Die höfliche Antwort, die er sich dann abrang, handelte davon, dass er sich spanische Konditions- und andere Schwächen "fast nicht vorstellen" könne. Darauf folgte ein Monolog, der zur Hälfte von der Empörung über die Ignoranz des Fragestellers und zur anderen Hälfte von der anhaltenden Begeisterung für den spanischen Fußball getragen wurde.

"Spanien ist Weltklasse in den Ballkombinationen", stellte Löw erst mal klar, "Iniesta ist Spielkultur in der besten Form, die es gibt", fügte er unter anderem in Anerkennung des Mittelfeldspielers Andrés Iniesta hinzu.

Aber das Leiden der Spanier am störrischen Gegner ist ihm natürlich nicht entgangen: "Kroatien steht auch mit neun Mann hinter dem Ball, versucht die Räume eng zu machen, das Spiel zu zerstören, den Gegner aus dem Rhythmus zu bringen", bilanzierte Löw, um dann wieder genießerisch festzuhalten, dass den Spaniern trotzdem noch die passende Antwort eingefallen sei.

"Die Spiele hier laufen sehr eng"

Löws Referat zur spanischen Ehrenrettung beruhte nicht zuletzt darauf, dass er sich dem Kollegen Vicente del Bosque quasi schicksalhaft verbunden fühlt. Die Favoritenrolle lastet ja nicht nur auf den meisterlichen Iberern, sondern auch auf den Deutschen, die seit dem EM-Finale vor vier Jahren ihre eigene Version der iberischen Vision zu verwirklichen suchen - ständig im potentiellen Duell mit den Vorbildern. Das deutsche 2:1 gegen Dänemark wies durch die Voraussetzungen einige Parallelen zum 1:0 der Spanier gegen Kroatien auf, und wie Del Bosque sieht sich auch Löw derzeit durch Fragen nach der Programmatik herausgefordert. Es geht um seine Stilvorgaben und das Verhältnis zur erfolgreich angewandten Praxis.

Als er jetzt gefragt wurde, ob er im Laufe des Turniers seine romantischen Ansprüche an den Fußball seines Teams realistischen Erfordernissen angepasst habe, reagierte der Bundestrainer erneut so, als hätte ihn jemand kränken wollen. "Diese Fragestellung bedeutet ja jetzt fast schon, dass Sie denken, wir hätten eine Abkehrung von unserem Kombinationsfußball. Das würde ich nicht so sehen!", dementierte er streng. Andererseits ließ er dann eine Analyse folgen, die eben diese Auffassung bestätigt. "Es war doch klar, dass wir eine Ausgewogenheit finden müssen für ein Turnier, das über sechs Spiele geht", meinte Löw, den Idealfall der Finalteilnahme aufgreifend.

Die Umstände hätten sich für seine Mannschaft nun mal geändert. "Letzten Endes haben sich unsere Gegner immer ein bisschen mehr zurückgezogen in den vergangenen Monaten. Selbst Holland spielt gegen uns auf einmal in der eigenen Hälfte, Dänemark zieht sich um den eigenen Sechzehner zusammen. Da muss man zwangsläufig mehr in die Breite spielen, hat dadurch mehr Ballbesitzzeiten, nicht jeder dritte, vierte Ball kommt im Strafraum an." Das ist das Schicksal eines überlegenen Favoriten, Spanier und Deutsche haben es gleichermaßen erfahren müssen.

Am Dienstag hat auch Holger Badstuber etwas zu dieser Debatte beigetragen. Der Münchner Abwehrspieler beschrieb die Sache aus seiner Sicht, aus der Sicht des Mannes, der für die Sicherheit verantwortlich ist. "Die Spiele hier laufen sehr eng. Da muss man hinten gut stehen", erklärte er und resümierte: "Defensive Stärke ist im Turnier am wichtigsten, weil man weiß, dass man vorne immer was reißen kann." Das klingt vernünftig, aber nicht besonders visionär.

Trotzdem lässt sich diese konservative Auffassung in Löws Entwurf vom Großen und Ganzen unterbringen. "Hinten", sagte der Bundestrainer, "muss die Mauer stehen." Als Sicherung gegen die Konter. Die Kunst besteht für ihn darin, in der Bekämpfung eines aufsässigen Gegners "die Balance zu finden - ohne zu mauern". So wie die Spanier das seit Jahren unvergleichlich gut beherrschen.

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